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Mennoniten zur Zeit Hitlers

Nachbarn von Juden, Helfer der Nazis, 

Judenmörder, Zeugen des Schrecklichen

Die vielfältigen Rollen der Mennoniten im Holocaust 

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    Es gibt ein Buch, das heißt "European Mennonites and the Holocaust" (Europäische Mennoniten und der Holocaust), herausgegeben von Mark Jantzen und John D. Thiesen. Darin gehen sie der Frage nach, wie die Mennoniten sich zu Hitler und zu den Juden verhalten haben. In den folgenden Zeilen übernehme ich ausgewählte Zitate und Informationen aus diesem Buch.

    Im August 1942 hatte der Holocaust eine schreckliche Phase erreicht: Die Hälfte seiner jüdischen Opfer war tot. Die Überlebenden in Europa kämpften um ihr Leben. Im selben Monat führte SS-Hauptstürmführer Heinrich Wiens eine Untereinheit der Nazis mit etwa 500 Mann. Im Verband mit weiteren drei Einheiten waren sie  hauptverantwortlich für die Ermordung von 1,5 Millionen Juden im deutsch besetzten Russland. Die Einheit von Wiens war im Nordkaukasus stationiert. Ihre Aufgabe war es, die dortigen Juden zu erfassen und ihre Ermordung zu planen.

    Was ist der Holocaust? Siehe hier!
    Und dann kam es zum Massaker in der „Glasfabrik“. Dort wurden unter Wiens’ Kommando 1.800 Juden ermordet. Wie wurde dieses Massaker ausgeführt? Die Nazitruppe hatte einen Gaswagen, darin passten höchstens 50 Menschen, die dann  mit Gas getötet wurden. Um 1800 Juden umzubringen, musste man diesen Vorgang 36 mal wiederholen: 50 Juden in den Wagen zwängen, die Gasventile öffnen, warten bis die Menschen erstickt waren, 50 Körper herausschleppen, dann die nächsten 50. Es ist kaum vorstellbar, wie schrecklich dieser Vorgang war. 

     Und Heinrich Wiens war der Kommandant, ein Mennonit. Er achtete sorgfältig darauf, dass die Aufgabe richtig erfüllt würde.

     Wiens wurde 1906 als Sohn mennonitischer Eltern in der Nähe von Molotschna/Halbstadt geboren. Er ging vermutlich 1930 nach Danzig, heute Polen, wo es eine große mennonitische Siedlung gab, trat 1931 der NSDAP und der SS bei und diente bis Kriegsbeginn im Büro der Nazipartei. Im Herbst 1941 kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo sein Trupp bei der Ermordung von Juden, Roma (Zigeuner) und sowjetischen Aktivisten im Gebiet Molotschna half, bevor er weiterzog, um weitere Verbrechen auf der Krim und im Kaukasus zu begehen.

    Nun ein ganz anderes Bild, mit einer ganz anderen Mennnonitin, in Holland: Es ist August 1942, hier geht es um eine holländische Mennonitin, namens Geertje Pel: Sie hatte 1940, zu Beginn der deutschen Besatzung, ein Versprechen gegeben, einer jüdischen Familie zu helfen. Ihr Mann war inzwischen gestorben. Dann war es soweit: eine Jüdin übergab Geertje in großer Angst ihr Baby. Die Witwe ging das Risiko ein und wollte das Baby neben ihrer schon älteren Tochter aufziehen.

    Auf der anderen Strassenseite wohnte der Polizist Hendrik van der Kraan. Als er davon erfuhr, meldete er dies den Nazis, die Holland besetzt hatten. Eines Tages wurde die Witwe Geertje zum Polizeiamt gerufen. Geertje ging mit dem jüdischen Kind im Kinderwagen und ihrer 21-jährigen Tochter Trijntje in die Stadtmitte. Dort verabschiedeten sie sich. Geertje fuhr allein nach Amsterdam. Tochter Trijntje ging mit dem Baby in die entgegengesetzte Richtung, in den Untergrund. Das Baby wurde anderswo in Sicherheit gebracht. Geertje meldete sich im Polizeibüro in Amsterdam. Dieses überwies die Frau in ein Konzentrationslager, wo sie am 20. Februar 1945 in der Gaskammer ermordet wurde.

     Die Witwe, die gläubige Mennonitin, hatte ihr Wort gehalten. Die Eltern des Babys konnten aus dem Land fliehen; ihre Großeltern und der Großteil ihrer Familie wurden aber in Auschwitz oder Sobibor ermordet. Geertje sagte mal, ein Mennonit solle sich an die Lehre Jesu in Matthäus 5,37 halten: „Euer Ja aber sei ein Ja und euer Nein ein Nein“, sie handelte nach ihrem Glauben. Bis in den Tod. Ihre Tochter Trijnie und das jüdische Baby Marion überlebten den Krieg.

     Diese beiden Mennoniten, Heinrich Wiens und Geertje Pel, spielten im Holocaust völlig unterschiedliche Rollen. Wohin neigte damals die Mehrheit der Mennoniten? Zu Geertje, die Judenretterin oder zu Heinrich Wiens dem Judenmörder? Waren Mennoniten eher judenfreundlich oder den Juden feindlich gesonnen?

     Die Mennoniten in Russland lebten mitten unter Juden. Im allgemeinen wurden Juden in ganz Europa gehasst. Auch in Russland. Aber Mennoniten hatten persönliche Bekanntschaften mit Juden, wohnten oft als Nachbarn nebeneinander. Der Apotheker der Kolonie war ein Jude.

    Warum sich mit Mennoniten und dem Holocaust beschäftigen? Wir Mennoniten sind doch nur eine geringe Zahl jener, die mit den Juden während des Naziregimes zu tun hatte! Eigentlich kann man den Beitrag der Mennoniten am Holocaust als bedeutungslos bezeichnen.

    Die Autoren des Buches schlagen dafür einige Gedankengänge vor: Für uns Mennoniten, innerhalb unserer Gemeinschaft, ist dieses Thema meistens tabu. Manch ein Mennonit hatte unter seinen Vorfahren einen Nazisympathisanten, einen Antisemiten, einen Judenfeind, vielleicht sogar einen Helfer der Nazis. Darüber aber spricht man nicht. Man verschweigt es seinen Nachkommen gegenüber, dass z.B. der Großvater bei den Nazis mitgemacht hat oder Hitler gut geheißen hat. Man ist darüber beschämt und möchte es heute lieber totschweigen.

    In meinem Elternhaus kam dieses Thema hin und wieder zu Gespräch. Meine Mutter hatte eine eindeutige Abneigung gegen Juden. Da erinnere ich mich, wie mein Vater ihr widersprach und meinte, dass unser Familienname "Siemens" vielleicht auf jüdische Herkunft weist. Und dann fügte er halb im Spaß, halb im Ernst hinzu: "Hoffentlich gehören wir zum Stamm Davids!" Verärgert verließ Mutter dann den Raum und meinte abschätzig: "Ach, was!"

     Es gibt kaum einen brasilianischen (oder paraguayischen) Mennoniten, der damals nicht Stellung zum Thema bezogen hat. Nach meinem Dafürhalten gab es eine Menge solcher unter uns, die mit den Nazis sympathisierten. Wie war es in deiner Familie?

    Eine zweite Perspektive, die die Autoren betonen: "Mennoniten haben ihre Geschichte oft mennozentrisch geschrieben", so als ob wir immer von der ganzen Umgebung isoliert wären, als ob unsere Vorfahren sich nicht von der jeweiligen Umgebung hätten anstecken lassen. Ein großer Irrtum. Die Mennoniten Preußens neigten dazu, so zu denken wie ihre preußische Umgebung. Sie hatten die holländische Sprache abgelegt und vertauschten sie mit der Deutschen, aber nicht nur das. Sie fingen auch an preußisch zu denken. In Russland dachten die älteren Generationen "deutsch" und als die Nazis Deutschland zu einem neuen Erwachen führten, zu neuer "Größe", so nahmen sie ihre Denkweisen auf. Folglich auch den Judenhass und das "Verständnis" dafür, wenn die Nazis die Juden vernichteten.

     Ein dritter Gedankengang: Wir neigen dazu, die Geschichte der Mennoniten als eine Geschichte von Verfolgten um ihres Glaubenswillen zu sehen. Wir lieben Geschichten über mennonitische Glaubenshelden, darüber wie unsere Vorfahren wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, aber durch Gottes Gnade treu bis in den Tod blieben. Und das stimmt. Es hat unzählige Zeugen des Glaubens in unserer Mitte gegeben. Aber nicht immer.

    Es gab auch Mennoniten wie Heinrich Wiens, die mit Enthusiasmus an der Vergasung von 1800 Juden teilnahmen. Oder Johann Epp, der mennonitische Bürgermeister von Chortitza, über den ich in einer anderen Ausgabe schrieb, der in völliger Harmonie mit den Nazitruppen seinen Dienst tat.

     Kürzlich wurden die Archive der KGB in Kiew eröffnet. Darin fanden Forscher "erschütternde Berichte mennonitischer Kollaborateure". Da fand man das Register vom Arzt Ivan Klassen, der behinderte Patienten in einem Krankenhaus der mennonitischen Siedlung Molotschna untersuchte. Klassen "stellte fest", dass über 100 Kinder, Frauen und Männer "arbeitsunfähig" waren. Ein Tötungskommando erschoss anschließend diese "untauglichen" Menschen.

     Aileen Friesen beschreibt ein Massaker an Juden in Chortitza im Jahr 1942, nur wenige Kilometer von einer Kirche entfernt, in der sich Mennoniten versammelt hatten, um Ostern zu feiern. Unter den örtlichen Polizisten, die den Mord begangen, befanden sich zwei Mennoniten.

     Die Erforschung der Rolle der Mennoniten im Holocaust erschüttert den Mythos der mennonitischen Unschuld. Leider erwiesen sich Mennoniten meistens als sehr willige Helfer der Nazis oder sie lebten "ihren Glauben" aus ohne zu fragen, was mit ihren jüdischen Mitbürgern geschah.

     Einige weitere Episoden, die in dem Buch erzählt werden:

     "1942 meldete der Bürgermeister meiner Heimatstadt Osterwick den deutschen Behörden einen Mitbürger, der zufällig ein Jude war und mit einer mennonitischen Frau verheiratet war. Dieser Jude, der sein ganzes Leben mit Mennoniten verbracht hatte und sogar Plautdietsch sprach, wurde verhaftet und ermordet. Einige Monate lang lebte meine Familie im Haus dieser Familie. Es war als Judenhaus bekannt."

    Fast alle mennonitischen Memoirenschreiber des Zweiten Weltkriegs erwähnen die Behandlung von Juden, und einige beschreiben Gräueltaten, von denen sie gehört oder die sie beobachtet hatten. Die Lehrerin Anna Sudermann hatte angenehme Erinnerungen an die Begegnung mit jüdischen Geschäftspartnern ihres Vaters. Sie besuchte eine Handelsschule, wo, wie sie sagte, die meisten ihrer Klassenkameradinnen junge jüdische Frauen waren. Doch Sudermanns Schilderung zufolge waren nicht alle ihre Erfahrungen mit Juden positiv. Als sie nach der Verhaftung ihres Bruders unter sowjetischer Polizeiüberwachung stand, behauptete sie, Informant und Vernehmer seien Juden gewesen.

      Sudermann berichtete, wie sie während des Krieges beobachtete, wie Juden zusammengetrieben und aus der Stadt abgeführt wurden, um ermordet zu werden. Sie kannte das Schicksal von Nachbarn und Freunden. Der Leser kann sich ein besseres Bild davon machen, wenn er ihre eigenen Worte liest. Sudermanns Bemerkungen offenbarten die Nähe von Mennoniten und Juden in der Region:

     "Wir spürten seit dem ersten Tag der Besatzung ein großes Unbehagen gegenüber Juden. Am zweiten Tag erfuhren wir, dass sich der Apotheker Vogel und seine Frau vor der Besetzung von Chortitza vergiftet hatten. Er starb, aber seine Frau überlebte. Viele Juden waren geflohen, doch das Apothekerpaar hatte offenbar eine Gelegenheit zur Flucht verpasst. Viele langjährige jüdische Einwohner, die immer unter Mennoniten gelebt hatten, die uns während der Sowjetzeit nie unfreundlich begegnet waren oder diskriminierendes Verhalten an den Tag legten, blieben in ihren Häusern in Chortitza, ebenso wie der alte Schuhmacher Aaron mit seiner Frau, in der Hoffnung, dass ihnen nichts passieren würde. Doch alle Juden lebten in großer Angst …"

     Warum verspürt sie ein "Unbehagen", als die Nazis kamen? Es war ihr klar, dass mit der Anwesenheit der deutschen Truppen, die Juden jetzt nicht mehr "gleichwertige Lebewesen" waren. Da wohnten in Chortitza ein jüdischer Apotheker, ein jüdischer Schuhmacher und andere mehr. Und sie merkt, dass die Juden "in grosser Angst" leben. Irgendwann verschwinden sie. Sie sind nachts geflohen. Der Apotheker, der zurückblieb, zieht es vor, in den Tod zu gehen.

       Die Mennonitin Sudermann machte deutlich, dass sie den Massenmord aus erster Hand kannte:

"Eines Tages sahen wir, wie Juden, etwa 50 Männer, Frauen und Kinder, die Straße entlanggetrieben wurden. Sie wurden alle außerhalb des Dorfes erschossen, auch Halbjuden. Eine russische Mutter soll mit ihrem halbjüdischen Kind in den Tod gegangen sein. Die Gendarmerie wurde beauftragt, diese Aktionen durchzuführen."

    "Halbjuden" hatten in ihrer Familiengeschichte einen jüdischen Vorfahren. Diese wurden auch getötet. Wenn man bedenkt, dass Hitler selbst vielleicht jüdischer Abstammung ist und also auch getötet werden müsste. Siehe hier!

     Sie schloss mit einem Schuldbekenntnis:

"Mit Entsetzen schreibe ich heute diese Zeilen. Dieses Ereignis war eine schwere Last für uns alle. Es ist heute unfassbar und wird für Menschen, die diese Zeit nicht miterlebt haben, nie verständlich sein, wie wir diese unmenschlichen Taten ohne offenen Protest hinnehmen konnten. Ich möchte folgende Tatsachen erwähnen, nicht um Entschuldigungen zu suchen, sondern nur, um unser Verhalten verständlich zu machen: Unter dem Sowjetregime haben wir viel Unmenschlichkeit erlebt und waren uns auch der Bedeutung der Juden im wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes bewusst. An der Spitze der GPU bemerkten wir viele Juden, und auch die verhörenden Richter waren Juden. Millionen Menschen verschwanden und starben in den „stillen Lagern“. Wir wussten, wie das Leben in einem totalitären Staat aussieht. Unsere Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit waren durcheinandergeraten. In Deutschland sahen wir das Gegenteil von Sowjetrussland, nämlich etwas Besseres. Damals verehrten wir Hitler noch. Wenn er sich für eine solche Lösung der Judenfrage entschieden hatte, dann gefährdeten die Juden offenbar die politische Sicherheit Deutschlands. Auf diese Weise versuchte ich, die unmenschliche Behandlung der Juden zu rechtfertigen. Darin liegt meine große Schuld, die durch keine Mittel gesühnt werden kann. Ich kann nur auf vergebende Gnade hoffen."

    Heute kann diese Mennonitin es nicht verstehen wie "wir diese unmenschlichen Taten ohne offenen Protest" duldeten. Tausende, Millionen Menschen haben mitgemacht, waren Hitlers Helfer, aber im Nachhinein, wollen sie damit nichts zu tun gehabt haben. Oder stehen fassungslos da, wieso sie so schändliche Taten des Naziregimes ohne Protest geduldet haben.

     Sudermann versucht dafür eine Erklärung: die Mennoniten Russlands hatten sehr unter dem sowjetischen Regime gelitten, und zu Beginn der sowjetischen Zeit haben viele Juden bei der Einführung des Kommunismus in Russland mitgewirkt. Es scheint verständlich. Die Deutschen in Deutschland waren aber in einer ganz anderen Lage und haben auf der gleichen Weise die Juden gehasst und es wohlwollend geduldet, als Hitler die Juden verfolgte.

    Eine mennonitische Dichterin, Connie Braun, lädt uns ein, über die „fehlenden Teile unserer Erzählungen“ nachzudenken. Wir sind geneigt unsere Geschichte und unser Volk nur einseitig zu sehen.

    Das ist um so mehr war, wenn wir bedenken, dass der Name "Mennonit" nicht gleichgesetzt werden kann mit "Nachfolger Jesu". Wie viele nennen sich Mennoniten, haben aber wenig oder nichts mit der Nachfolge Jesu zu tun. Wie viele sind oder waren sogar Gemeindeglieder, beteiligten sich aber daran nur aus formalen Gründen.

    Heinrich Wiens wie auch Geertje Pel sind in die Geschichte als "Mennoniten" eingegangen. Würdest du beide als Nachfolger Jesu bezeichnen?

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