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erinnerungen an Moskau

1929

Heinrich Martins, Blumenau Brasilien

Aus: "Der Bote", 1949

Folge I

    Losgefahren von Moskau - 1. Gruppe - den 29. Okt. 1929; in Leningrad angekommen - den 31. Okt. abends; den 3. Nov. in Kiel, Deutschland.

    Der 29. Oktober 1929 wird bei vielen noch in Erinnerung sein und unvergeßlich bleiben, denn es war der Tag, in dessen ersten Nachtstunden die erste Gruppe verladen wurde von den vielen Tausenden Flüchtlingen, die im Laufe der letzten Monate sich bei Moskau angesammelt hatten, um die Erlaubnis zu erhalten, nach Übersee auszuwandern.

    Über die Ursachen der Ansammlung von Flüchtlingen bei der russischen Metropole, ihre Entwickelung und die endliche Ausreise selbst von einem Teil der Familien ist in den darauffolgenden Jahren manches veröffentlicht worden in den Zeitschriften.

    In folgendem möchte ich einiges Selbsterlebtes aus jenen bewegten Tagen festhalten und Einzelheiten mitteilen, über welche meines Wissens in den mennonitischen Blättern bisher nichts berichtet worden ist.

Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews.

     Der Verband der Bürger holländischer Herkunft in der Ukraina, unter Zusammenarbeit mit dem A.M.L .V. in Moskau , hatte bei der Zentralregierung eine Sondererlaubnis erwirkt für Abwanderung nach Übersee, als Entlastung für einzelne Mennonitensiedlungen Rußlands. Diese Bewegung begann 1923 / 24 , und zog sich bis 1929. Die Krim blieb davon unberührt.

    Hauptsächlich auf Grund mündlicher Nachrichten, durch Besuche von Siedlung zu Siedlung, hieß es immer wieder: Es geht! Nur nach Moskau kommen und dort etwas warten! 

    Anfang 1929 glaubten wir, daß auch für unsere Familie der richtige Augenblick gekommen sei. Nach zweimaligem Ausruf und sonstigen andern Vorbereitungen verließen wir unser Heimatdorf und kamen Mitte August 1929 nach Moskau.

   Die letzte Abwanderungs- oder Entlastungsgruppe, versehen mit ordentlichen russischen Auslandspässen, verließ wenige Tage nach unserer Ankunft die Hauptstadt, Richtung Grenze. Wehmütig blickten wir ihr nach, aber mit der festen Hoffnung, daß es auch uns gelingen werde, auf dieselbe Art hinauszukommen. Es war aber ganz anders . Ein Wendepunkt trat ein. Nach Abreise dieser letzten "legalen" Gruppe stellten wir fest, daß etwa sechzig Familien noch da seien. Ein jeder von uns versuchte nun, bei den entsprechenden Behörden ebenfalls die Ausreiseerlaubnis zu erhalten, aber alle unsere Bemühungen waren erfolglos.

    Anfang September versammelten sich im Wäldchen bei D. ein gutes Dutzend Männer, um über unsere Lage zu beraten, und, wenn möglich, ein Komitee zu wählen. Draußen waren Posten aufgestellt, um uns zu warnen bei herannahendem unerwünschtem Besuch. Die Gemüter waren gedrückt. Von den Anwesenden wurden Männer in Vorschlag gebracht für das Komitee, das sich unserer Angelegenheit im besonderen annehmen sollte. Eine Wahl kam aber nicht zustande, denn einer der Anwesenden, es war M., wies darauf hin, daß wir kein Komitee wählen können, weil jede Person, die von uns herausgestellt wird als Bevollmächtigter von den Behörden angesehen werden wird als Agitator und Organisator einer illegalen Sache; damit wird nur dessen Freiheit und auch sein Leben aufs Spiel gesetzt, und unserer Sache ist nicht gedient. Das leuchtete ein, aber - was tun? Wir können doch nicht untätig bleiben in unserer Lage! Das wenige mitgebrachte Geld wird bald aufgebraucht sein, und es geht in den Winter. Wir wohnen ja in Holzhäusern! - Tiefes, ernstes Schweigen.

   "Es sind hier Namen genannt worden. Wir dürfen diese Personen nicht wählen. Aber auch ungewählt tut ein jeder von uns für die Allgemeinheit das, was er glaubt tun zu müssen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wir wissen ja, was man von uns erwartet!" - Es war derselbe M., von dem dieser Vorschlag kam, als Ausweg aus der entstandenen kritischen Lage. Stillschweigend stimmt man zu und geht wieder auseinander, wenn auch mit bangem Herzen, aber nicht ganz ohne Hoffnung.

   Auch mein Name wurde auf dieser Waldversammlung genannt. Der dort geäußerte Wunsch war für alle, im besondern aber für mich, nicht nur Befehl, sondern selbstverständliche Pflicht, ein heiliges Muß: denn indem ich der Allgemeinheit zu helfen suche, helfe ich auch mir und meiner Familie.

    Es wäre ein interessantes Kapitel für sich, einmal die einzelnen Namen derjenigen Personen festzuhalten, die sich furcht- und selbstlos für ihre Brüder einsetzten, stets unter Gefahr, persönliche Freiheit und eigenes Leben zu verlieren.

   Jeden Tag nun wurden Behörden und auch Einzelbeamten der verschiedensten Regierungsanstalten mit unserer Angelegenheit "belästigt", sodaß diese mit Bestimmtheit annehmen mußten, dahinter stecke eine stramme Organisation. Die so "Arbeitenden" waren unter sich nicht in Verbindung, aber das eine Ziel, das sie alle im Auge hatten, und zwar "Erlaubnis zur Auswanderung", dieser Hauptgedanke machte ihre Arbeit und ihr Vorgehen "einheitlich". Vergeblich suchten die GPU-Agenten - darunter auch junge Juden, die plattdeutsch sprachen - unter den Massen nach den Führern dieser Bewegung, aber man konnte sie nicht entdecken, denn sie waren nicht da, jeder einzelne wußte sich irgend wie aktiv in der Bewegung. Eines Tages stoßen diese Agenten tatsächlich auf eine Person, welche die Führer der ganzen Bewegung verraten will. "Ich weiß es", sagt endlich ein altes Mütterchen. Neugierig und gespannt rücken sie näher, damit ihnen auch kein Wort entgeht. "Nun, wer ist es denn?" fragt man ungeduldig. "Soll ich es sagen?" "Ja!" "Es ist der liebe Gott, der uns führt,'' kommt es langsam von den Lippen dieses Großmütterchen. Enttäuscht gucken sich die Agenten an, einige spucken entrüstet aus, denn solche Antwort hatte man nicht ·erwartet. In der Folge ließ ihr Eifer etwas nach.

    Die Zahl der Flüchtlinge vermehrt sich allmählich. Täglich treffen neue Familien ein, anfangs vereinzelt, dann in Gruppen. Am häufigsten sieht man Ansammlungen auf den Nordbahnhöfen: die meisten Leute kommen aus Richtung Orenburg, Samara, Sibirien. Die Wohnungsfrage wird akut. Fast sämtliche leerstehende Sommerwohnungen der Moskowiter in den Vororten (es sind Holzhäuser) werden besetzt von den neu eintreffenden Familien. Die Mietspreise steigen, die Existenzfrage wird alarmierend, denn eine größere Anzahl von Familien ist bereits ganz ohne eigene Mittel. Verschiedene Familienväter und Einzelpersonen übernehmen irgend welche Arbeit, um die notwendigsten Unkosten decken zu können.

    Die Agentur der RUSCAPA wird öfters besucht, für eine ganze Reihe von Familien sind Schiffspassagen angemeldet, eingesandt von Verwandten und Bekannten. Eine Ausreiseerlaubnis erhält aber niemand. Einigen von den unsrigen gelingt es, Audienz bei führenden Beamten zu erhalten, bei den nächsten Mitarbeitern Stalins. Niemand gibt Aussicht oder Hoffnung auf Ausreiseerlaubnis. "Geht zurück, geht nach Hause." "Wir haben kein Zuhause mehr, man hat uns alles weggenommen." "Wir werden Euch alles zurückgeben, nur fahrt zurück!" "Wir wünschen nichts zurückzuerhalten, wir möchten nur raus!" "Ihr habt ja keine Mittel für die Reise!" "Und wenn wir zu Fuß bis zur Grenze gehen müßten, das andere wird sich schon finden. Nur gebt uns die Erlaubnis zur Auswanderung!" - Diese und ähnliche Gedanken waren meistens Gegenstand der Unterhaltung mit den Beamten. - Einigen von unseren jungen Leuten gelingt es, durch ein recht gewagtes Vorgehen, mit Beamten ausländischer Vertretungen in Fühlung zu kommen und sie über die Lage der bei Moskau angesammelten Flüchtlinge zu informieren. Das war nicht ganz einfach, weil wir alle dauernd aufs schärfste durch Agenten der GPU beobachtet werden.

    Immer mehr Familien kommen nach Moskau. Waren es Mitte August ca. 60 Familien, so steigt die Zahl sehr rasch auf einige Tausend Personen: Anfangs Oktober können es schon mehr als 6 Tausend gewesen sein, nach oberflächlicher Schätzung. Die Zahl wächst täglich. Gegen Mitte Oktober sind bereits achttausend, rasch werden es zehntausend, und gegen Ende Oktober zählt man schon nahe an dreizehntausend. - Die Zentralregierung sieht dem unheimlichen Anwachsen der Flüchtlingsmassen nicht gleichgültig zu. Schon gegen Ende September werden von Moskau aus gewisse Gegenmaßregeln getroffen: Eisenbahnzüge durch Gebiete mit deutschstämmigen Einwohnern dürfen keine Passagiere von diesen Leuten mitnehmen. Viele machen große Umwege, umfahren die eigene Bahnstation, um oft nach Tagereisen auf eine andere Bahnstation zu kommen, die in einem ganz russischen Gebiet liegt, nur, um nach Moskau zu kommen. Vereinzelt werden von GPUAgenten schon Familien aus den Zügen herausgeholt, denn am Gepäck und an den geschlossenen Familien erkennt man in ihnen "Auswanderer". Daher kommt es, daß in den letzten Oktoberwochen verschiedene Familien nach Moskau ganz ohne Gepäck kommen, um nicht unnötigen Verdacht auf sich zu lenken. Auch bei ihrer Ankunft in Moskau werden vereinzelte Familien von Agenten der GPU "in Empfang genommen". Es gelingt, eine große Anzahl Neueintreffender zu warnen, und sie steigen schon einige Stunden vor Moskau aus, um nicht den Agenten direkt in die Hände zu fallen. - Neuankommende berichten von weiteren schärferen Maßregeln der örtlichen Agenten, um ein Reisen nach Moskau möglichst zu verhindern.

    Inzwischen meldet sich der Winter. Trübe, kalte und nasse Tage. Feuchte Wohnungen, keine Brennung. Die Kinder fangen an zu kränkeln, es findet sich Keuchhusten, etc. Eine allgemeine Unruhe bemächtigt sich unserer Leute, man fängt an, ungeduldig zu werden. Noch immer keine Aussichten. Ist wirklich keine Hoffnung mehr?

   Verschiedene Schichten der Bevölkerung in und bei Moskau verhalten sich unserer Bewegung gegenüber sympatisch. Großes Interesse zeigen die sogenannten Tolstojaner, die Anhänger und Nachfolger des Lew Nikolajewitsch Tolstoj, des berühmten russischen Schriftstellers. Mit verschiedenen Männern aus diesen Kreisen kommen wir in Fühlung und in Verbindung. Warm interessiert man sich für unsere Lage, und hat uns verschiedentlich beraten, wie wir uns als Masse zu verhalten hätten, und welche Schritte von uns eventuell unternommen werden müßten. Durch Vermittlung von Freund J. K. werde auch ich mit Männern aus diesen Kreisen bekannt. Es kann Anfangs Oktober gewesen sein, als J .K. und ich im sogenannten "politischen Roten Kreuz" vorsprechen, auf Anraten unserer Tolstojaner Freunde. Im Empfangszimmer treffen wir vereinzelte Frauen und Jungfrauen an mit verweinten Gesichtern. Sofort wußten wir: diese Frauen suchten und forschten nach dem Verbleib ihrer Männer, Väter und Brüder, die, meistens in dunkler Nacht, weggeholt worden waren von Agenten der GPU, und seitdem "verschollen". Die Leiterin dieses politischen Roten Kreuzes war Frau Peschkowa, die Frau des weltbekannten russischen sozialistischen Schriftstellers Maxim Gorky. Wir werden auch bald empfangen.

II

   Aufmerksam mit freundlicher wohlwollender Miene hört diese Dame den Bericht über unsere Lage als Flüchtlinge an. Auf unsere Bitte, unsere Bemühungen um die Ausreisegenehmigung gehörigen Orts zu befürworten und zu unterstützen, gibt sie zur Antwort: Ihr seid doch keine politischen Flüchtlinge! "Aber unsere Lage ist der Lage jener doch gleich!" - Stillschweigend wird das zugegeben. Ein besonderes Versprechen wird ihrerseits nicht gegeben. Dieser Besuch wird die Veranlassung zu einer schriftlichen Eingabe, die von mehreren hundert unserer Frauen unterschrieben, an diese Dame gerichtet ist, und worin die hoffnungslose Lage unserer Familien und besonders der Kinder geschildert wird, angesichts des herannahenden Winters. An das gute und mitleidige Herz dieser Frau appellierend, wird sie gebeten, ihrerseits, wo notwendig, mitzuhelfen, daß unsern Familien die Ausreiseerlaubnis gegeben würde.

   Am übernächsten Tage soll dieses Gesuch ihr persönlich überreicht werden in ihrer Wohnung. Bei dieser Gelegenheit versuchen wir Herrn Maxim Gorky persönlich zu sprechen, um auch ihm unsere Lage ans Herz zu legen, werden aber nicht vorgelassen. - Inwieweit diese Eingabe an Frau Gorky (Peschkowa) mit dazu beigetragen haben mag, bei der schließlichen Erlaubnis zur teilweisen Auswanderung, wissen wir nicht. Wir glauben aber bestimmt daran, daß sie nicht ohne Erfolg gewesen ist.

   Durch die Vermittlung der Tolstojaner-Freunde werde ich auch mit Genossen D. bekannt, der den hohen Posten eines Direktors von sechs chemischen Fabriken in und bei Moskau bekleidete. Auf alle Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen. Genug, wohl im Laufe fast eines ganzen Monats besuche ich allabendlich diesen uns ebenfalls wohlgesinnten Genossen, um ihm Unterricht in englischer Sprache zu erteilen. Er gehörte früher auch zu den Tolstojanern, war jetzt ''abtrünnig'', noch ledig und bewohnte einige Zimmer im Zentrum der Stadt. Seinen Haushalt besorgte ein älteres Frauenzimmer, eine Art Amme (Babka!). Beim Eintritt in sein Arbeitszimmer grüßte mich jedesmal ein großer wohlgepflegter Hund. - Da wir in einem entlegenen Vorort wohnten, mußte ich ca. 25 Werst mit der Vorortbahn nach Moskau fahren. Jeden Abend nach 8 Uhr machte ich mich allein auf den Weg. Dort angekommen, werde ich vor Beginn unserer Sprechstunde, (für jeden Fall hatte ich englische Lehrbücher mit), von diesem Beamten genauestens unterrichtet darüber, was Stalin persönlich, und seine nächsten Mitarbeiter einzeln, über unsere Bewegung denken, und in welchem Sinne sie sich dazu geäußert haben. Daran anschließend berieten wir über eventuelle Maßnahmen, die unserseits gut wären, um eine raschere Entscheidung in unserer Angelegenheit herbeizuführen. Ich greife nur folgendes heraus aus den letzten Wochen unseres Dortseins: Genosse D. macht eines Abends den Vorschlag: Nachdem einzelne von uns verschiedentlich in Privataudienz von verantwortlichen Persönlichkeiten empfangen worden seien, wäre es gut, inzwischen einmal eine stumme Massendemonstration im großen Warteraum vor Kalinins Zimmer durchzuführen, und zwar durch Anwesenheit von vielen Frauen mit kleinen Kindern.

   Als nächsten Mitarbeiter und Gehilfen hatte Gott mir einen "Adjutanten" zugestellt, es war Freund B., jetzt in Paraguay. In den letzten Wochen besucht er mich fast regelmäßig jeden Morgen, und stellt die kurze Frage: Was gibt's? - Kurz teile ich ihm mit, wie man in Moskauer führenden Kreisen über unsere Bewegung denkt, und gebe auch ganz kurz einige Hinweise auf eventuelle Verhaltungsmaßregeln für die Massen. - An jenem Morgen teile ich ihm auch den Gedanken von Genossen D. mit, ohne sich auf irgend eine Person oder sonstige nähere Umstände zu beziehen, gibt er meinen Gedanken weiter. Und am darauffolgenden Tage kann ich selbst beobachten, wie bald sämtliche Vorortzüge der Nordseite angefüllt sind mit wohl mehr als hundert mennonitischer Frauen, die, mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm, Richtung Moskau fahren. Nach und nach füllt sich der große Warteraum vor Kalinins Zimmer. Nach mehreren Stunden Verweilens dort geht's wieder zurück. Niemand von den Frauen hatte um Erlaubnis gebeten, mit Kalinin oder mit Sinowjew zu sprechen: ihr Erscheinen dort mit den kleinen Kindern sollte den Behörden mehr sagen als irgend eine Audienz: Wir sind noch da, und bitten euch inständig, besonders um unserer Kinder willen, uns reisen zu lassen!

   Diese und ähnliche Fälle zeigen, wie stramm organisiert diese Menge von Flüchtlingen auftreten konnte, trotzdem jede sichtbare Organisation fehlte. Ein Gedanke, ein Vorschlag, hineingegeben in die Menge mit der Absicht, der von uns allen so sehnsüchtig erwarteten Lösung zu dienen, um uns herauszuhelfen, war für alle ein selbstverständlicher Befehl, dem unbedingt nachgekommen werden mußte.

    Meine allabendlichen Besuche nach Moskau bei Genossen D. setzte ich fort, allein, ohne Begleitung, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Einmal bat ich Freund W., mich zu begleiten. Als wir auf der Bahnstation auf den Zug nach Moskau warteten, zeigt einer von den zufällig anwesenden Mennoniten auf mich und sagt: "De foat va ons wirke!" - Ich erschrak etwas, und wagte seitdem nicht mehr, jemanden als Begleitung zu bitten. Wir waren uns der Gefahren voll und ganz bewußt, die solche regelmäßigen Nachtfahrten in dieser besonderen Mission mit sich brachten. Menschliche Garantien waren keine geblieben! - In allem Ungewissen war der große Gott der einzige sichere Halt, und in vollem unbeschränktem Vertrauen auf ihn verließ ich allabendlich meine Familie, und durch Gottes große Gnade, wie ein Wunder, durfte ich immer wieder zurückkehren. Unser Leben betrachteten wir als täglich uns von Gott neu geschenkt.

Folge II

III

   Dieses "ausschließlich aus Gottes Hand leben" machte unser Herz fest, und wir konnten, bei Überwindung aller Menschenfurcht, uns von Gott ruhig brauchen lassen auch in dieser Arbeit. In jenen kritischen Tagen war das Verhalten meiner treuen Lebensgefährtin von ganz besonderer Bedeutung. Sie hat nie Einwendungen gemacht gegen meine allabendliche Abwesenheit, hat sich nie beschwert darüber, daß ich sie jeden Abend mit den vier kleinen Kindern allein ließ. Im Gegenteil: durch völligste Verschwiegenheit vor den andern, und durch aktivste Anteilnahme an meiner Mission war es überhaupt möglich, solche Arbeit zu tun.

    Jeden Tag gab es etwas Neues. Einmal gelang es mir, Audienz bei Genosse Sinowjew zu erhalten. Zwei unserer Brüder begleiteten mich. Schilderung unserer Lage, anknüpfend daran unsere besonderen Wünsche: Zweck unseres Vorsprechens: Laßt uns auswandern! Wir erhielten keine bestimmte Antwort, wie das schon so oft der Fall gewesen war.

    Die Spannung in unseren Kreisen wurde größer in der zweiten Hälfte des Oktobers. In dieser Zeit lernte ich auch den alten Iwan lwanowitsch Gorbunow-Possadow kennen, den berühmten russischen Kinderschriftsteller, einen Zeitgenossen und intimen Anhänger und Freund Lew Tolstojs, den er überlebte. Oefter durfte ich in seiner Wohnung einkehren, deren Zimmer in ihrer Ausstattung ganz den Geist Tolstojs atmeten. Seines hohen Alters wegen und auch aus Rücksicht auf sein Ansehen als Literat und Schriftsteller, das er auch über die Grenzen Rußlands besaß, hatten ihn die Genossen in Ruhe gelassen, trotzdem er ihnen oft manche Wahrheit gesagt hatte. Mit warmem Herzen nahm er Anteil an unserm Schicksal, und hat uns aus seiner reichen Erfahrung heraus manchen wertvollen Rat geben können.

    Bei Genosse D. in Moskau treffe ich eines Abends mehrere mir unbekannte Herren an. Sie werden mir als Vertreter der amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation "Agrojoint" vorgestellt. Ihre Aufgabe war, den notleidenden Juden in Rußland zu helfen. Frei und offen wurde auch über die Lage der deutschstämmigen Bauern in Rußland gesprochen, nachdem ich kurz hierüber berichtet hatte. Diese "Fremden" hörten solches zum ersten Male und drückten ihre Verwunderung darüber aus.

   Es kann der 20. Oktober gewesen sein. Ich mache meinen üblichen Besuch bei Genosse D. Nach ausführlichem gegenseitigem Gedankenaustausch sagt er mir plötzlich: Jetzt wird es Zeit, zu handeln! - Gespannt horche ich auf. Es gilt einen letzten entscheidenden Versuch eurerseits zu machen, und "über Euch wird so oder anders entschieden!" - Er rät uns, wohldurchdachte, begründete Eingaben anzufertigen, sie mit mehreren Hunderten Originalunterschriften zu versehen und sie gleichzeitig an die sechs verantwortlichen leitenden Stellen der Sowjetregierung in Moskau einzureichen. Die Schlußgedanken dieses Gesuches müssen die Behörden vor ein Entweder-Oder stellen. - Beim Weggehen weist er noch auf einige Umstände hin, die in der Eingabe unbedingt erwähnt werden müssen. Er wünscht noch viel Glück, und wir verabschieden uns. Es war mein letzter Besuch bei ihm. Gott wird sein Wohlgefallen gegen uns gelohnt haben! Aus seinem guten Herzen heraus hat er sich bemüht, uns in unserer Lage zu raten und zu helfen, ungeachtet der Gefahren, die auch für ihn damit verbunden waren. Sein Name bleibt unvergeßlich verbunden mit den Erlebnissen jener kritischen Tage bei Moskau Ende Oktober 1929.

   In später Nachtstunde komme ich nach Hause. Wie immer, erwartet mich meine Frau. Die Kinder schlafen schon einige Stunden. Für uns beide heißt es: Sofort an die Arbeit, keine Zeit versäumen. Eine gemeinsame Eingabe wird ausgearbeitet. In kurzen klaren Sätzen schildere ich unsere Lage, die bereits droht katastrophal zu werden. Und wenn aus irgend welchen Erwägungen heraus die Behörden es nicht für möglich finden sollten, uns die Erlaubnis zur Auswanderung zu geben, dann bliebe für uns kein anderer Ausweg, als geschlossen auf dem Roten Platz zu erscheinen und dort vor ihren Augen zu sterben! - Das war der Schlußsatz des Gesuches, das bei sechs Stellen eingereicht werden sollte. Es folgte noch eine Anmerkung: Dasselbe Gesuch geht ebenfalls an folgende fünf Stellen: die namentlich aufgenannt wurden. - Durch diesen Nachsatz sollte von vorneherein ein Verschwinden unter dem grünen Tischtuch unmöglich gemacht werden, die Behörden wurden gewissermaßen gezwungen, Stellung zu nehmen zu unserer Lage, und darüber zu entscheiden! - Nachdem der Entwurf fertig war und mehrere Male durchgelesen, wurde er von meiner Frau umgeschrieben. Eine gut Bogenseite von Oktavformat füllte das Gesuch aus. - Erst lange nach Mitternacht legten auch wir uns zur Ruhe, uns Gottes Schutze empfehlend.

   Wie üblich besucht uns mein Adjutant am nächsten Morgen. Auf seine Frage: Was gibt's Neues? überreiche ich ihm das handgeschriebene Gesuch und bitte ihn selbiges anfertigen zu lassen in sechs Exemplaren, und jedesmal von einer anderen Handschrift. Unser Original möchte er so bald wie möglich zurückbringen. Die andern sechs Exemplare müssen unterschrieben werden von möglichst viel Personen, und schon nach wenigen Tagen mir wieder zurückgebracht. - Ohne unnötige Worte zu verlieren, entfernt sich ''mein Mitarbeiter". Etwas gespannt bin ich selbst, wie das wohl vor sich gehen wird, und flehe zu Gott um Hilfe auch bei dieser Sache, die für uns vielleicht doch eine Lösung bringen wird. - Am nächsten Tage kommt unser Entwurf zurück. Er wird vernichtet. Bei Spaziergängen durch unsere "Siedlungen" bei Moskau kann ich in den nächsten zwei Tagen beobachten, wie sich an verschiedenen Stellen Menschen ansammeln, wobei laut diskutiert wird. Auf mein Befragen hin gibt man mir den Bescheid: es werden Eingaben an die Regierung unterschrieben. - Nach zwei Tagen bringt mein Adjutant alle sechs Eingaben zurück, jede unterschrieben mit ca. siebenhundert Namen. Die Eingaben waren fertig, aber sie an die richtigen Stellen abzuliefern, das war ein neues, nicht ganz einfach zu lösendes Problem.

 

IV

    Meine üblichen Fahrten nach Moskau fanden in diesen Tagen nicht statt. Alle Gedanken waren einzig darauf konzentriert, die angefertigten Gesuche sicher an die betreffenden Stellen zu leiten. Es war das nicht so selbstverständlich einfach, wo jeder unserer Schritte beobachtet wurde. Als ich auf der Straße eines unserer Massenquartiere einen bekannten Mennoniten treffe, hält er mich an, begrüßt mich und fragt teilnahmsvoll, ob ich das Neueste wisse? "Was denn?" - "Wir haben Bittschriften an die Regierung eingereicht, und jetzt wird man uns bestimmt hinauslassen!" - Eine große Zuversicht spricht aus seinen Worten. Ich erwiderte gar nichts, denn die Gesuche lagen wohlversteckt unter den Fußbodenbrettern unserer kleinen Wohnstube, die 3 x 4 Meter maß, und in welcher wir Eltern mit 4 Kindern schon mehr als 2 Monate wohnten. - Gott, zeige uns den Weg, und hilf uns! -

   Am 25. abends stecke ich in jede innere Rocktasche je drei dicke Briefe. Länger darf nicht gewartet werden. Jeder Umschlag großen Formats hat seine Adresse, aber kein Absender ist vermerkt. Die Eingaben müssen so aufgegeben werden, daß sie auch sicher ihren Bestimmungsort erreichen. Über das Wie bin ich mir selbst noch nicht klar. Langsam, in Gedanken versunken, gehe ich zur Bahnstation und besteige den ersten Zug nach Moskau, wie üblich, auch dieses Mal ohne Begleitung. Im vollen Vertrauen auf Gottes Beistand gehe ich diesen Weg. Von Genossen D. hatte ich bereits Abschied genommen. Also wohin? Ich denke an unsern alten Freund Iwan Iwanowitsch Gorbunow-Possadow. Zu ihm lenke ich meine Schritte, um ihn um Rat zu fragen. Auch jetzt empfängt er mich freundlich. Ich werde mit Tee bewirtet. Dabei erzähle ich ihm das Letzte und Neueste. Mit warmer Teilnahme hört er mich an. Wie soll ich es machen, damit die Eingaben an die Behörden gelangen? "Da kann ich Dir keinen Rat geben, Gott möge Dir helfen, Brüderchen! Von mir aus wünsche ich Euch alles Beste!" Es ist schon spät geworden. Ich drückte ihm die Hand, bedankte mich für die Freundlichkeit und verabschiede mich für immer. So gelange ich auf die Straße mit meinen vollen Rocktaschen, und weiß immer noch nicht, was zu tun. Es geht gegen Mitternacht. Ohne bestimmte Richtung gehe ich durch mir ganz unbekannte meistens schmale Straßen. Plötzlich bemerke ich eine kleine Postabteilung, die Nachtdienst hat. Im selben Augenblick wird mir die Eingebung: Hier bietet sich dir Gelegenheit, die dicken Briefe abzugeben. Aber unbedingt registriert, eingeschrieben, damit sie auch sicher ankommen. Und wen soll ich als Absender vermerken? Einen Privatnamen auf keinen Fall. Rasch kommt mir der Gedanke, auf der Rückseite abgekürzt zu vermerken: Gruppe der Mennoniten aus Dj. (einer der von uns bewohnten Vororte bei Moskau), das entspricht vollständig der Wahrheit, und verrät niemanden. Aber alle Briefe auf einmal abgeben an dieser Stelle, könnte verdächtig werden, weil sie sämtlich an die höchsten Stellen der Zentralregierung gerichtet sind. Ich will es mit zwei Briefen versuchen! - Alle diese Erwägungen und Überlegungen gingen blitzschnell durch den Kopf. Kaum hatte ich diese kleine Postabteilung bemerkt, als ich auch schon eintrete, begrüße kurz das verschlafene Fräulein, vermerke rasch mit meinem Füllfederhalter den Absender auf zwei von meinen Briefumschlägen, überreiche sie und erhalte die Quittungen. Etwas erleichtert befinde ich mich nach wenigen Augenblicken wieder auf der Straße und schlußfolgere: es muß im großen Moskau also noch mehr solcher kleinen Postämter geben, die Nachtdienst verrichten. Ohne zu wissen, wo ich mich befinde, gehe ich weiter durch mehrere Straßen, und treffe glücklicherweise ein zweites ähnliches Postamt an, bedient von einem schläfrigen Fräulein. Ich gehe ebenso vor, wie im ersten Postlokal, und meine Taschen werden um weitere zwei dicke Briefe erleichtert. Bedeutend ruhiger und etwas sicherer, bin ich wieder auf der Straße, und - geführt von einer unsichtbaren Hand, wandere ich noch einige Zeit durch schmale Vorortsstraßen, bis ich auf ein drittes Postlokal stoße, wo ich meine letzten zwei Briefe abgeben kann. Ein Dankesseufzer entsteigt meiner Brust, aus Freude über das Gelingen dieses Vorhabens, und dazu noch ohne unliebsame Zwischenfälle. Jetzt aber rasch nach Hause, denn es ist schon weit nach Mitternacht. Dieselbe Hand, die mir die kleinen Postämter gezeigt, führte mich in finsterer Nacht durch mir ganz unbekannte Straßen zum richtigen Bahnhof. Ein Nachtzug bringt mich glücklich zu den Meinigen. Wie schon so manche Nacht, erwartet mich auch dieses Mal meine treue Lebensgefährtin. Was der alte Iwan I. Gorbunow-Possadow uns gewünscht hatte, war Wirklichkeit geworden: Gott hatte bis hierher wunderbar geholfen! Nach einem kurzen Dankgebet begeben wir uns zur Ruhe für den Rest der Nacht. Menschlicherseits war alles getan worden, um die Behörden vor die Entscheidung zu stellen: entweder die Erlaubnis zur Ausreise, oder: wir sterben vor Euren Augen auf dem Roten Platz!

     Unser Schicksal lag in des Allmächtigen Hand!

 

V.

    Unsere Eingaben hatten Erfolg. Schon in den Vormittagsstunden des nächsten Tages konnten wir bald merken, daß in Moskau etwas los sei. Man mußte fast den Eindruck gewinnen, etwas Außergewöhnliches sei geschehen: ein Hasten und eine Nervosität vonseiten einiger Beamten, daß man meinen müßte, alle bösen Geister seien losgelassen. Aus Moskau kommt durch einen Boten Nachricht, man wird uns rauslassen. Jemand von uns soll zum NKWD (Innenkomissariat) kommen. Ich selber eilte dorthin. Gegen Mittag erhalte ich offiziellen Bescheid: man gibt uns die Erlaubnis auszuwandern! - Überwältigt von dieser von uns allen so sehnlichst erwarteten Nachricht, renne ich vor übergroßer Freude auf die Straße, und miete eine Taxi für 60 Rubel. Dem Chauffeur gebe ich Anweisung, rasch zu fahren. Bald sind wir außerhalb der Stadt, und nach mehr als einer halben Stunde fahren wir durch die von unsern Leuten bewohnten Vororte. Bei verlangsamter Fahrt stehe ich im Wagen und rufe laut nach rechts und links: Wir dürfen fahren, macht Euch fertig! - Einer gibt dem andern die freudige Mitteilung weiter, und bald wissen alle, was los ist.

    Nachmittags sind auch schon Agenten da, um die genehmigte Auswanderung zu "organisieren", um Gruppen zu bilden und namentliche Listen aufzustellen. Verschiedene von uns versuchen diesen Beamten behilflich zu sein in ihrer Arbeit. Wir merken aber bald, es klappt nicht alles richtig: die meisten Namen werden falsch geschrieben, es muß aber auch berücksichtigt werden, wie lange die einzelnen Familien schon bei Moskau liegen. Wir machen den Agenten den Vorschlag, diese Arbeit uns zu überlassen, damit es rascher geht. Sie gehen darauf ein. An die Spitze der ersten Gruppe stellen sich M.L. aus der Krim und meine Wenigkeit. Als Sammelpunkt für sämtliche Angaben dieser Gruppe gilt unsere Wohnung.

      Vom NKWD erhalten wir Anweisung, alle zur Ausreise notwendigen Dokumente zu sammeln, und je 400 Rubel pro erwachsene Person in der Familie für den Auslandspaß einzusammeln. Unmündige Kinder sollen auf die Pässe der Eltern gehen: die Knaben zum Vater und die Mädchen zur Mutter. Jede Gruppe soll bei 100 Familien enthalten. Die erste Gruppe wird mit annähernd 200 Familien abgeschlossen, Liste Nr. 2 hat bald 300 Familien. Die Familienzahl der nächstfolgenden Gruppen bewegt sich zwischen 200 und 300 Familien.

     Am darauffolgenden Morgen, dem 29. Oktober, hat die erste Gruppe ihre Listen abgeschlossen. Eine Unmenge von Dokumenten sind zusammengebracht, und an Geld etwas über 77 Tausend Rubel. Wir lassen uns eine Taxi kommen, und mit zwei Koffern: der größere mit Dokumenten und der kleiner mit Geld gefüllt, fahre ich nach Moskau. Zwei Brüder aus unserer Mitte begleiteten mich. Angekommen im NKWD, nimmt man unsere Dokumente in Empfang, und schüttet sie in eine Ecke eines abgeteilten Büroraumes, als ob alles Abfallpapier wäre. Ich stehe unter dem Eindruck, daß die Dinge nicht normal gehen. Das Geld wird ordnungsgemäß in Empfang genommen. Man gibt uns Bescheid: am nächsten Tage werden wir alle fahren dürfen. Wir begeben uns zurück zu den unsrigen. Es wird noch immer gruppiert, und an den Listen gearbeitet. Am Nachmittage des 29. Oktober weiß man schon von Gruppe Nr. 7. zu berichten, Gruppe 8 ist in Bearbeitung. Nach den bereits erfaßten Familien müssen es weit mehr als 10,000 (zehntausend) Seelen gewesen sein, und eine größere Anzahl von Familien wartete noch auf Eintragung. Eilig wird gepackt, Wäsche noch rasch gewaschen. Unwillkürlich denkt man an den Auszug der Kinder Israel aus Aegypten. Überall ein Eilen und Hasten, um nichts zu versäumen und nicht zu verspäten.

     Wir wissen von keiner genauen Stunde unserer Abfahrt, und versuchen, uns bereit zu halten. Es wird auch damit gerechnet, daß unerwartet, ganz plötzlich eine Sondermeldung uns überraschen kann. Für jeden Fall hatten wir persönlich uns einen Wagen (Teleshka) bestellt, und auch im voraus bezahlt, nur damit dieser Fuhrmann die ganze Nacht uns zur Verfügung stehen sollte. Die Kinder schlafen schon. Die Uhr geht auf 10. Auch wir denken an die Nachtruhe. Für heute ist kaum noch etwas zu erwarten. Der große Tag kommt also morgen. Kaum dieses gedacht, hören wir draußen das Geräusch eines Autos, das immer näher kommt. Es hält neben unserem Hause. Es kann sich nur um etwas Außergewöhnliches handeln.

    Ein kleiner Schreck durchfährt uns. Plötzlich wird die Tür unseres Zimmers geöffnet, und vor mir steht M.L., einer der Gruppenführer der ersten Liste, in Begleitung eines Agenten des NKWD. Ganz bleich und fast ohne Atem teilt M.L. mit: Und wer bis 12 Uhr nachts nicht auf dem Bahnhof sein wird, bleibt überhaupt zurück! - Die beiden verlassen uns, um noch vielen anderen aus der ersten Gruppe diesen eiligen Befehl zu bringen.

    Ohne noch viel zu überlegen, weshalb die große Eile, wecken wir unsere Kinder. Die letzten Sachen werden rasch verpackt. Aus einem Nachbarhause schickt der alte Bärgen (ging später nach Paraguay) einen Boten und läßt fragen, ob dieser Befehl wörtlich zu nehmen sei, vielleicht geht es morgen auch! - Ich lasse ihm sagen: Für ihn ist es die letzte Gelegenheit! Wenn er diese versäumt, wird er nie mehr auswandern können! - Das klang fast prophetisch! Und für verschiedene aus der ersten Gruppe war es die einzige und letzte Gelegenheit. Selbst der erwähnte M.L. der mit dem NKWD-Agenten uns diese Eilmeldung brachte, ist nicht mitgekommen, denn er erwartete aus dem Süden eine größere Summe Geldes. Andere hatten draußen Wäsche, die noch wenigstens einen Tag trocknen mußte. Noch andere wollten die letzte Zahlung für ihre Arbeit bei Privatleuten erst abholen, einige warten auf nächste Angehörige, die sie zu ihren Familien hatten schreiben lassen in den Listen; diese Verwandten konnten erst morgen oder übermorgen kommen. "Eile und errette deine Seele!" Nur derjenige, der diesen Befehl persönlich auf sich bezog und nicht zögerte, ihn zu befolgen, konnte mit Auswanderung rechnen. "Sieh nicht hinter dich!" - Geld, Angehörige, Wäsche oder Sonstiges, nichts durfte uns zurückhalten. Für eine ganze Reihe Familien aus der ersten Gruppe bot sich keine Gelegenheit mehr zur Auswanderung.

Folge III

VI.

      Draußen nasse Moskauer Oktobernacht. Es regnet sanft. In etwa einer halben Stunde sind wir fertig. Unser Fuhrmann war nicht gekommen. Später erfuhren wir, daß er, ziemlich angetrunken, mit seinem Fuhrwerk in den Bach gestürzt war. Also zu Fuß die fast 3km bis zum Bahnhof, in dunkler Nacht. Die Truhe mit den wertvollsten Andenken und den notwendigsten Sachen muß zurückbleiben, denn sie tragen oder schleppen geht über unsere Kräfte. Wir bitten einen Bekannten, mit der nächsten Gruppe uns die Truhe nachzuschicken. Wir haben von ihr aber nie mehr etwas gesehen. Ruhig, ohne ein Wort zu verlieren, oder nur irgend eine lästige Frage zu stellen, schreiten die Kinder neben uns einher, sich am Arm oder am Koffer festhaltend. Das jüngste ist 4 Jahre alt, das älteste 10. Querfeldein über eine nasse Wiese eilen wir zum Bahnhof, wo wir schwer keuchend, fast ohne Atem ankommen. Es ist bereits Mitternacht, also fast zu spät.

      Auf dem Bahngeleise steht ein Zug mit 6 Eisenbahnwagen, besetzt von Familien aus der ersten Gruppe. Ein Agent des NKWD registriert im kleinen Wartesaal die Ankommenden. Wir sind schon von den letzten. Nach uns kommen noch zwei Familien, und dann erklärt der Agent die Liste für geschlossen. ein Blick auf die Liste sagt mir, daß mehr als die Hälfte der Familien noch fehlen aus der ersten Gruppe. Auf meine Frage antwortet mir der Agent: Wir haben heute nicht mehr Wagen zur Verfügung, die anderen fahren später! Etwas mehr als 300 Personen - einschließlich die Kinder - haben Platz genommen und die Wagen gefüllt. Ein besonderer Gepäckwagen war auch zur Verfügung gestellt. "Wir müssen jemanden zum Transportführer dieser Gruppe bestimmen," sagt der Agent. Einer von den wenigen, die noch im Wartesaal mit uns am Tisch des Agenten saßen, nennt meinen Namen. Ich werde als solcher namentlich eingetragen. - Gegen zwei Uhr nachts setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Die Stimmung ist gehoben, endlich fahren wir! - Eine auf dem Bahnhof zurückbleibende Familie sieht uns wehmütig nach: sie durfte nicht mitfahren, weil jemand von der Familie fehlte.

     Der Morgen graut. Gegen Mittag hält der Zug. Wir befinden uns noch immer in Moskau, auf einem entfernt liegenden Nebengeleise eines großen Bahnhofes. Wie lange werden wir hier stehen? Wann geht es weiter? Niemand gibt uns rechten Bescheid. Fast scheint es, wir sind vergessen. Einige von uns gehen auf Suche nach Lebensmitteln und nach Wasser. Erst nachts setzt sich unser Zug wieder in Bewegung. Am nächsten Morgen merken wir, es geht nordwärts, Richtung Leningrad (früher Petersburg). Außer den von uns besetzten 6 Personenwagen hat der Zug vorne und hinten nach eine Reihe Militär. Unsere Wagen tragen in großen Buchstaben die Aufschrift: Umsiedler (Peresselenzy!), um das Eisenbahnpersonal und die Bevölkerung zu täuschen über die mit Hack und Pack reisenden Passagiere. Sowohl während der Fahrt, wie auch auf den Bahnstationen, beim Anhalten des Zuges dürfen wir uns ganz frei halten und bewegen. Oefter werden Lebensmittel gekauft.

     Am 31. Oktober abends kommen wir in Leningrad an, ohne besondere Zwischenfälle. Auf dem Bahnhof werden wir bereits erwartet von Agenten der Regierung und auch der GPU. Nach ganz kurzem Verweilen im Wartesaal werden wir über einen Platz geführt zur Straßenbahn. Unsere Sachen schleppen wir zum größten Teil mit uns. Straßenbahnwagen werden von den Agenten angehalten, die Passagiere müssen auf die Straße, und uns heißt man in die entleerten Wagen steigen. Auf jedem Wagen steht vorne und hinten eine Wache, damit niemand von uns "ausreiße". Man bringt uns bis zum sogenannten "Überseeheim", dem Hafen und der Zollabfertigungsstelle der russischen Gesellschaft für Schifffahrt und Handel, eingerichtet mit großen Sälen und Unterkunftsräumen für Reisende. An großen weißgedeckten Tischen wird uns ein gutes Abendessen serviert. Alles sauber und nett, wie wir es selber schon viele Jahre nicht gesehen hatten.

     Bald nach dem Essen geht's an die Desinfektion der Kleider. Inzwischen wird uns alles Geld abgefordert, das wir besitzen, unter dem Vorwand, nach Möglichkeit zur Reise beizusteuern, weil niemand für uns die Reise bezahle! Die ganze Nacht hindurch läßt man uns nicht in Ruhe. Mitten in der Nacht noch die Zollabfertigung, gleich am Hafen in der Nähe des Überseeheimes, ziemlich oberflächlich: die Koffer, kaum geöffnet, konnten wir sie auch wieder schließen. Dann wieder zurück in die Aufenthaltsräume. Weil die Desinfektion der Kleider sich in die Länge zieht, fangen besonders die Kinder an zu frieren und zu weinen. Es geht schon gegen Morgen. Dazwischen wird auch eine ärztliche Untersuchung durchgeführt: eine Familie wird zurückgestellt, wegen Krankheit unter den Kindern. - Wir bitten um warmes Wasser für die Kinder, nachdem die Frühstückszeit längst vorüber ist, und wir merken, daß man nicht daran denkt, uns Kaffee oder Tee zu geben. Unsere Bitte wird abschlägig beantwortet. Hatte man abends uns freundlich empfangen und an einen guten Tisch gesetzt, so war gegen Morgen das Verhältnis zu uns genau das Gegenteil: man hatte nichts mehr für uns übrig. Die Kinder mußten frieren ohne Kleider und ohne irgend welche Decken, die man uns verweigerte. Warmes Wasser oder Tee gab's auch nicht. Es wurde draußen heller Tag. Allmählich nötigt man die Familien, ins Schiff zu gehen. Meine Frau mit den drei kleinen Töchtern führt man in ein besonderes Zimmer, unsern Sohn und mich in ein anderes Zimmer, wo wir eingeschlossen werden. Draußen im Korridor höre ich die Schritte unserer Leute, die zum Schiff geführt werden. Nach einer Weile tritt ein Agent in unser Zimmer. Alle Taschen müssen entleert werden, Falten und Nähte an jedem Kleidungsstück werden sorgfältig untersucht, auch die Schuhe müssen ausgezogen werden. Durch ernstes Bitten kann ich den Agenten bewegen, mir wenigstens unsere Geburtsscheine zurückzugeben. Notizbuch, verschiedene Postmarken, eine Liste der Passagiere und einige kleine Zettel behält er. Dann läßt man uns allein im abgeschlossenen Zimmer. Mit bangem Herzen seufze ich, das Weitere steht in Gottes Hand!

 

VII.

    Später erfuhr ich, daß meine Frau und die 3 Töchter von einer weiblichen Agentin, die dünne Gummihandschuhe trug, ebenfalls untersucht wurden. Auffallend fand sie das ausgezeichnete Russisch meiner Frau, wie es sonst keine der unsrigen Frauen beherrschte. In einer anschließenden kurzen Unterhaltung antwortete meine Frau unerschrocken, sehr entschieden und bestimmt, was die Agentin zum Nachdenken brachte. Sie verläßt das Zimmer, und wenige Augenblicke darauf ist die Frau frei und wird zum Schiffe geführt, in dessen Innerem alle andern bereits Platz genommen hatten. Aufgefordert, ebenfalls ins Schiff zu gehen, weigert meine Frau sich das zu tun, mit der Begründung: Ohne meinen Mann gehe ich nicht ins Schiff! - Sehr entschieden klingen ihre Worte und kurz darauf hören wir den Schlüssel unserer Tür sich drehen, und ein Agent führt uns beide - unser Söhnchen und mich - zum Schiff. Als letzte Familie steigen wir die Treppe hinunter ins Schiff. Einer von den Unsrigen, Br. F., jetzt in Paraguay, der bei der Luke steht, hört von einem Agenten noch eine Drohung mir nachrufen: "Warte nur, dich kriegen wir noch!" - "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott hat es wohl gemacht!"

 

Schluß

    Der Name unseres Dampfers ist "Djershinsky". Der Konstrukteur, ein englischer Schiffsbauingenieur, begleitet den Dampfer auf seiner Jungfernfahrt. Das Innere dieses Frachtdampfers ist jetzt für Personentransport eingerichtet: ein großer Schlafraum mit Himmelbetten, und lange Tische für gemeinsame Speisung.

     Am 1. November um die Mittagszeit werden die Anker gelichtet, und wir stechen in See. Sehr angenehm begrüßen wir das Mittagessen, das wir gleich nach Abfahrt des Dampfers zu uns nehmen dürfen. Wir denken noch an die eben verlebte unruhige, hungrige und kalte Nacht. Die Seelenstimmung ist wohl sehr ernst, aber es wird ruhiger in uns. Unsere Mädchen helfen beim Servieren an den Tischen, beim Zutragen der Speisen und auch beim Abräumen. Gleich die erste Mahlzeit wird mit einem gemeinsamen Liedervers und einem kurzen Gebet eingeleitet. Diese Gewohnheiten halten wir bei während der ganzen Fahrt. Die Einleitung zum Abendessen ist zugleich Schlußgottesdienst des Tages. Wir sind uns dessen voll bewußt, daß wir uns im Dampfer noch auf Sowjetboden befinden. Menschlich betrachtet, bleiben wir der Willkür der alten Regierung ausgesetzt. Beim Singen und Beten danken wir Gott für seine Gegenwart und für seinen Trost, und bereiten unsre Seelen darauf vor, alles aus Gottes Hand auch in der Zukunft anzunehmen, was auch kommen mag, Gutes oder auch Leides! Wir haben auch keine andere Wahl: alle menschlichen Stützen sind haltlos geworden und wertlos, die einzige Zuflucht bleibt: nur Gott allein! Mit Ihm, sollten uns gute Tage geschenkt werden, aber auch nur mit Ihm, wenn es vielleicht in den Tod gehen sollte! Über ähnliche böse Absichten unserer damaligen Machthaber erfuhren wir nachträglich, als wir schon in einem deutschen Lager waren. Gott hatte es über uns anders beschlossen! Haben wir diese besondere Wohltat Gottes heute schon vergessen?

     Ohne besondere Zwischenfälle, ohne besondere Ereignisse verläuft die Reise, bis wir, am 3. November 1929, in den Kieler Hafen einlaufen. Ein wunderschöner Sonntagmorgen zeigt uns deutsche Landschaft wie in einem bunten Bilderbuche. Vor Jubel hätten wir laut aufschreien mögen. Beim Durchfahren unter der hohen Brücke winkt man uns von oben zu, auffallend sind die roten Tücher, aber wir achten nicht viel darauf. Mit Spannung erwarten alle den großen Augenblick - die Landung.

      Ein deutscher Hafenpolizist kommt an Bord. Man läßt mich rufen in die Kajüte des Kapitäns. Ein kurzes Fragen und Antworten! Sprechen Sie auch Deutsch? - fragt man mich. Bis dahin sind wir ganz ohne Dokumente gereist. Daran hatten wir selbst nicht einmal ernstlich nachgedacht. Es ging ja alles außergewöhnlich! Zu meinem Staunen bemerke ich, wie der Kapitän dem Hafenpolizist unsere Dokumente einhändigt, von denen wir keine Ahnung hatten. Es waren kurzfristige Sowjetpersonalausweise, mit einem Transitvermerk der Deutschen Botschaft in Moskau. Durch diese Dokumente waren wir staatenlos geworden, man hatte uns ausgebürgert.

    Wir dürfen an Land gehen. Ein neues Kapitel für die heimatlosen Wanderer.

 

Heinrich Martins, Blumenau, Caixa postal 131, Sta. Catarina, Brasilien.

Ende

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