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Tatianas Mann hatte klare Anweisungen gegeben, was sie alles besorgen müsste, damit die Flucht klappen könnte: „Ich werde im Brief irgendeine Zahl anführen. Das wird das Datum bedeuten, an dem ihr zur Stelle sein müsst. Den Monat brauche ich nicht zu nennen. Nur der Juli kommt in Frage. Das Wetter ist am besten, außerdem gibt es Pilze und Beeren. Ich werde mir aber alle Mühe geben, um die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft in Kandalakscha zu erwirken. Dann ist alles viel einfacher. Auf alle Fälle musst du mir einen anderen Anzug, einen Hut und ein Rasiermesser mitbringen. Im Steckbrief werden sie nämlich meine Lederjacke und meinen schwarzen Bart als besondere Kennzeichen angeben. Diese Kennzeichen müssen aber verschwinden."
Gesagt, getan. Zur vereinbarten Zeit ist sie mit ihrem Sohn zur Stelle. Sie sehen noch mal alles durch, was sie für die Flucht brauchen werden. Auch an den Kompass hat sie gedacht. Als sie losrudern, fällt dieser unversehens ins Wasser. Nun müssen sie sich nach der Sonne richten, um über die Bucht zu rudern und dann sich durch die Wälder zu schlagen, um Finnland zu erreichen. Sie verstecken das Boot und machen sich auf den Weg, durch Wald und Sumpf, Richtung Finnland.
Erst gegen neun Uhr wurde er mit diesem Täuschungsmanöver fertig. Die Sonne war untergegangen, und nur die Gipfel der Berge leuchteten, als ob sie von Gold übergossen wären. Die Bucht war spiegelglatt, ohne Glanz. Der Wald schloss sich zu einer dunklen Masse zusammen. Der Junge wurde still. Er war müde und schläfrig.
„Gehen wir, wir dürfen hier nicht bleiben“, drängte uns mein Mann.
Wir nahmen unsere Rucksäcke auf den Rücken und schlugen einen kaum sichtbaren Pfad ein, der mit Baumzweigen und ganzen Baumstämmen übersät war. Der Rucksack drückte, die Füsse verfingen sich. Ich war ausser Atem und musste mich zusammennehmen, um nicht zurückzubleiben oder zu Fall zu kommen. Die Luft im Walde war feucht und schwül. Meine Wangen glühten, meine Zunge war trocken, ein quälender Durst stellte sich ein. Der Junge schritt verhältnismässig leicht aus.
So gingen wir eine Stunde. Tiefe Dämmerung herrschte im Walde, es sank aber keine Dunkelheit.
„Wir wollen rasten und etwas trinken“, sagte der Vater sehr leise, aber heiter.
„Und wo werden wir übernachten?“ fragte ungeduldig der Junge.
„Heute werden wir die Nacht im Walde verbringen, an Übernachten ist nicht zu denken. Wir gehen nach Finnland.“
Der Junge blickte mich an und senkte tief ergriffen den Kopf auf die Schulter des Vaters.
„Armer Vati!“
„Du wirst noch vieles erdulden müssen, Liebling. Unser Weg wird schwer sein. Gelingt es uns aber zu entkommen, so werden wir freie Menschen sein, und die GPU wird keine Gewalt mehr über uns haben.“
Der Junge wusste nicht, was er antworten sollte. Wir waren in tiefer Nacht im einsamen Walde, es gab keine Rückkehr nach Hause.
„Gehen wir!“ sagte er einfach. Er stand auf.
Wir begannen den Marsch aufs Neue. Ich konnte den Rucksack nicht mehr schleppen. Ich stürzte mehr, als ich ging. Mein Mann nahm zwei Rucksäcke, den einen auf den Rücken, den anderen trug er vorne an der Brust. Er war nicht wiederzuerkennen. Es war seine erste Stunde in der Freiheit.
„Heute Nacht müssen wir so weit gehen, wie wir nur können“, sagte er. „Morgen wird man uns vermissen. Die GPU wird benachrichtigt werden. Die Verfolgung wird wohl erst in den Morgenstunden einsetzen. Die GPU-Leute haben aber ein Motorboot und werden die Bucht in ein oder zwei Stunden durchsausen.“
„Ist Finnland weit, Vati?“
„Ja, es ist noch weit, Liebling. In der Luftlinie gegen achtzig Kilometer, wir werden aber über hundert Kilometer bewältigen müssen. Und sind wir drüben, so dauert es noch einige Tage, bis wir auf Menschen stoßen.“
So gingen wir die ganze Nacht hindurch. Beim Morgengrauen schien uns der Wald mit seinen Schluchten und Sümpfen nicht mehr so geheimnisvoll und furchterregend. Wir legten uns an einem umgestürzten Baumstamm nieder.
Mein Junge schlief ruhig. Ich selbst konnte nicht richtig einschlafen, da ich von Herzkrämpfen geplagt wurde. Gedanken und Träume verflochten sich ineinander. Ich wachte auf, als schwere Regentropfen auf mich niederfielen.
Ich musste meinen Mann wecken. Wir zogen rasch unsere Fußlappen und Schuhe an, um sie vor dem Regen zu schützen. Mein Junge war noch ganz schlaftrunken. Ich versuchte, ihn aufzurütteln, er legte mir aber immer wieder seinen Kopf in den Schoß und schlief sofort ein.
„Auf! Beeilt euch! Es ist schon fünf Uhr“, drängte uns der Vater. „Wir haben hier zwei Stunden verloren. Jetzt müssen wir weitergehen, sonst können wir leicht auf Menschen stoßen. Gehen wir einzeln vor. Wenn ihr seht, dass ich mich ins Gras lege, so werft euch gleichfalls sofort hin.“
Menschen unterwegs
Nachts fühlten wir uns einigermaßen sicher. Am Tage aber liefen wir Gefahr, auf Menschen zu stoßen. Jeder hätte uns verraten können. Für jeden Flüchtling würde er einen Sack Mehl bekommen. Und wir waren drei!
Die Gegend war wunderbar! Wir flohen durch Urwald, wir flohen durch Sümpfe, wir flohen über Steinhalden. Die Mücken stachen uns grausam in die Ohren und in die Augen, die Kleidung wurde von den Bäumen zerfetzt. Die Sonne brannte heiß. Wir kamen durch Wälder, die mit feuchter Wärme gesättigt waren. Wenn wir für Minuten rasteten, hatte ich Herzkrämpfe. Ich konnte nicht ans Essen denken. Mein Herz klopfte, die Kehle war zugedrosselt, in den Schläfen fühlte ich die Adern schlagen. Und immer wieder nahmen wir den Weg auf, wie wilde Tiere, die einer Treibjagd zu entkommen suchen. Ich weiß nicht, ob wir an diesem Tage eine große Strecke zurückgelegt hatten: ich weiß bloß, dass wir ziemlich früh Rast machen mussten, da ich und der Junge vor Müdigkeit umfielen. Wir legten uns unter den buschigen Zweigen einer Riesentanne zur Ruhe! Sie reichten bis zur Erde. Die mit Nadeln bedeckte Erde war weich und trocken. Jedes Geräusch im Walde aber schreckte uns auf. Mit aufgerissenen Augen mussten wir immer wieder dasselbe denken: dass jetzt unsere Flucht schon entdeckt, die Verfolgung schon im Gange war.
So kam ein Tag nach dem anderen. Vier, manchmal drei Stunden Schlaf unterwegs, kurze Rast. Der Wald wurde immer wilder, immer unberührter. Es wurde uns leichter zumute.
Am dritten Tag erreichten wir ein Flusstal. Wir machten erst halt, als der ganze Wald sich in weißlichen Nebel eingehüllt hatte.
„Hier ist kein sicherer Ort“, sagte mein Mann, während er die Anhöhe betrachtete, die nur von verkrüppelten, winzigen Bäumen bewachsen war. „Wenn es hell wird, kann man sich nirgends verstecken.“
„Beim Morgengrauen gehen wir weiter“, erwiderte ich.
Und dann schliefen wir im Nebel, knapp drei Stunden!
Die Müdigkeit wurde immer schwerer, immer entsetzlicher. Und wir waren gezwungen, einen hohen Berg aufwärts und ihn wieder abwärts in das Tal zu steigen. Je tiefer wir hinunterstiegen, umso üppiger wurde die Pflanzenwelt. Stellenweise verwandelte sich die Gegend in einen Morast. Trockenes Fallholz und Baumstämme mit starrenden Zweigen versperrten den Weg. Unsere Füße waren durchnässt, die Hände zerkratzt, die Kleider zerfetzt. Und als wir uns kaum noch schleppten, erwartete uns die nächste Strapaze dieses Tages: wir mussten den Fluss überschreiten!
Der Vater führte zuerst den Jungen und dann mich über zwei halbverfaulte Baumstämme ans andere Ufer; hierauf brachte er die drei Säcke hinüber. Der Übergang nahm über eine Stunde in Anspruch. Mein Mann war sehr müde und hungrig, und es fiel ihm offenbar schwer, weiterzugehen. Es schien mir aber sehr gefährlich, Zeit zu verlieren.
Als wir in der Dämmerung uns unter einer buschigen Tanne hinwarfen, zu einer kurzen, bemessenen Rast, waren unsere Füße von dem Dauermarsch geschwollen. Der Junge hatte sich die Ferse wundgerieben. Trotzdem mussten wir weiter! Der Weg wurde immer schwieriger. Er zwang uns über kahle Felsen und über unwegsame Sümpfe. Beim Sonnenuntergang erreichten wir die Stelle, wo der Weg eine Wendung nach Norden machte. Wir mussten zu ihm hinuntersteigen. Wir standen auf einem steilabfallenden Felsen. Spärliche, verkrüppelte Bäume und Sträucher konnten sich nur schwer in den Spalten halten. Nur aus Verzweiflung konnte man daran denken, einen solchen Bergabhang hinunterzuklettern. Wir wagten es, wagten es wirklich! Wir hingen oft halb in der Luft, ließen uns streckenweise gleiten, immer in der Hoffnung, dass es uns glücken würde, unterwegs irgendeinen Strauch zu erhaschen.
Am merkwürdigsten war das Verhalten des Jungen. Er war schlaftrunken und glaubte anscheinend, dass er über die Gefahr nicht nachzudenken brauche, solange Papa und Mama bei ihm waren. Er ließ sich ruhig die Felsen hinab in die Arme des Vaters fallen. Als wir unten angelangt waren, wagte ich nicht, den Felsen hinaufzublicken. Wie wir es fertiggebracht hatten, bei diesem Wagestück hell zu bleiben, weiß Gott allein.
Bei Nacht und Nebel überschritten wir den breiten Fluss. Zahlreiche Baumstämme lagen im Wasser, sie waren aber morsch. Der erste zerbrach unter meinem Mann, und er fiel ins Wasser. Wir mussten vorsichtig – jeder für sich – die Stämme betreten, um nicht zu stark zu belasten. Es gelang.
Das Martyrium
Ringsum war Sumpf. Das Moos war von Regen und Nebel aufgequollen, die Luft von Feuchtigkeit gesättigt. Unzählige gelbe Riesenmücken summten wie ein Geigenorchester. Dicker Nebel umhüllte die Tannen von den Wurzeln bis zu den Wipfeln.
Unsere Kleidung war ganz durchnässt. Stiefel, Fußlappen, Socken, alles musste ausgezogen werden. Die Mücken setzten uns so zu, dass wir alles, was einigermaßen dazu geeignet war, Strümpfe, Hemden, Unterhosen, um unsere Hälse und Arme wickelten.
Ich erwachte immer wieder. Mein Körper schmerzte. Ich hatte das Bedürfnis, mich auszustrecken, aber meine Beine gerieten jedesmal ins Wasser. Die Zeit zog sich quälend in die Länge.
Kaum hatte sich der Nebel etwas gelichtet, da weckte ich schon meinen Mann. Wir mussten so schnell wie möglich aus diesem schrecklichen Sumpf heraus. Mein Mann sah unerträglich aus. Er hatte sich um den Hals ein Hemd gewickelt, um den einen Arm eine wollene Decke, um den anderen ein Beinkleid. Die Beine waren in Fußlappen gehüllt. Unter dem schwarzen Schleier, den er als Schutz gegen die Mücken trug, schien sein Gesicht noch blasser zu sein. Die Augen waren schwarz umrändert. Er zitterte am ganzen Körper, seine Zähne klapperten laut.
Und trotzdem! Wir brachen auf. Bei unseren ersten Schritten schon patschte das Moos wie ein nasser Schwamm unter unseren Füßen.
Es ging scharf bergauf. Soweit aber das Auge reichte, sahen wir nur eine weiße Moosdecke mit orangefarbenen Blüten vor uns.
Der Himmel war anfangs mit Wolken bedeckt, die Wolken teilten sich aber nach und nach, und über den Bergen schimmerte die Morgenröte. Die Sonne zeigte sich noch nicht, es war aber gefährlich hell. Wir stießen auf sonderbare Pfade, die allerdings weder Menschen- noch Tierspuren aufwiesen. Entsetzt hetzten wir aufwärts. Die Grenze war möglicherweise schon nahe. In jedem Augenblick konnte sich ein berittener Grenzwächter zeigen und uns alle gefangen nehmen. Es gab kein Versteck. Wir waren schon vollends außer Atem, flüchteten aber immer weiter, ohne zu rasten, ohne uns umzuwenden.
„Vielleicht sind es nur Hirschpfade?“ meinte ich.
„Ich sehe aber keine Hirschspuren. Und warum führen die Pfade alle von Norden nach Süden?“
Wir eilten im Laufschritt. Der Durst plagte uns furchtbar. Die Sonne ging auf. In der durchsichtigen dünnen Luft schienen ihre Strahlen kalt und scharf zu sein. Hinter dem dünnen Wolkenschleier tauchten unheimliche Gebirgszüge auf.
Zu der Geographiestunde hatte man uns das Nordpolargebiet als eine kahle Sumpfwüste geschildert. Hier rollte sich ein richtiges Bergland vor uns auf, das der Schweiz nicht unähnlich war. Während aber dort die Berge zuweilen zurückwichen, um einen Blick auf einen stillen blauen See zu schenken, türmten sich hier nur schwarze, kahle Bergscheitel übereinander.
Und durch diese hoffnungslose Gegend sollten wir hindurch? Mich verließ alle Fassung.
„Ich kann nicht mehr!“ erklärte ich, „kann mich nicht mehr auf den Beinen halten.“
Ich legte mich auf einen Stein und bedeckte den Kopf mit meinem Regenmantel, um mich vor den Mücken zu schützen.
Als ich wieder zu mir kam, hörte ich eine leise Unterhaltung neben mir. Vater und Sohn kochten Tee. Im Kessel brodelte Wasser, die Zwiebacke waren mit Speck belegt. Die Sonne stand hoch, der Himmel war blau.
„Mutti, dein Stein ist wohl weich?“ neckte mich der Junge.
„Ja, er ist wunderbar weich. Ich habe nie so fest geschlafen.“
Die Welt, die freie, fröhliche lockende Welt, war uns offen. Zum letzten Male blickten wir auf die schwarzen Gebirgszüge, hinter ihnen schimmerte das Meer. Schwere Wolken lagen über ihnen, und über uns leuchtete die Sonne.
„Sieh auf die Sowjetunion“, sagte der Vater zu dem Jungen. „Es ist vielleicht das letzte Mal, dass du sie siehst.“
Er sah hin, schien aber nicht recht zu fassen, dass dort das für immer verlassene Vaterland lag. Vielleicht wurde er von Heimweh ergriffen. Dort war alles, was er erlebt und geliebt hatte. Auch mir fiel es unendlich schwer, von meiner Heimat Abschied zu nehmen. Ich hatte sie aufrichtig geliebt, selbst so wie sie jetzt war, entwürdigt, eingeschüchtert, irregeführt. Wie gern hatte ich für sie gearbeitet! Aber man hatte uns ausgestoßen. Wir waren Verfemte!
Wir brachen wieder auf. Ich wollte nicht weinen. Lieber marschieren, lieber sich zu Tode schleppen! Es war ein Glück, dass die Sonne schien, und uns die Richtung zeigte. Der Weg war leicht. Wir befanden uns auf dem südlichen Gebirgsabhang, der nicht mit feuchtem Moos, sondern mit Gras bewachsen war. Die Bäume – Tannen und Birken – waren zauberhaft wie in einem Garten. Es war warm, ein milder Wind verjagte die Mücken. Wir liefen Gefahr, auf eine Streife der Grenzwache zu stoßen; aber die Hoffnung, endlich die ersehnte Grenze, hinter der uns die Freiheit lockte, überschreiten zu können, war größer.
Der Junge kam aber auf einmal nicht mehr mit.
„Was ist denn mit dir?“
„Nichts. Geh nur voran, ich werde lieber hinten gehen.“
Als ich mich einmal unerwartet nach ihm umdrehte, sah ich, dass er ein Bein nachschleppte und sich auf den Stock zu stützen suchte.
„Warum hinkst du?“
„Ich habe mich mit dem Bein etwas gestoßen, es ist bald vorbei.“
Er war blass vor Schmerz und Anstrengung, sah erschöpft und kränklich aus. Solange er imstande war, sich auf den Beinen zu halten, marschierten wir weiter; bald aber mussten wir haltmachen, um sein Bein zu untersuchen.
Der Junge legte sich hin, wir zogen ihm die Stiefel aus und erstarrten vor Schreck: auf der Ferse war ein großes, eiteriges Geschwür. Es war unbegreiflich, dass der Junge überhaupt noch gehen konnte.
„Was können wir machen? Was sollen wir nur mit dir anstellen, du armer, lieber Junge?“ sagte der Vater in heller Verzweiflung.
„Ich weiß nicht, Vati.“
„Das Geschwür muss aufgeschnitten werden“, sagte ich.
„Wie können wir es aufschneiden? Wir haben doch keine Desinfektionsmittel.“
„Desinfiziere das Rasiermesser mit Feuer; die Wunde müssen wir mit Quellwasser auswaschen. Das Wasser ist hier rein.“
„Ich kann das Geschwür nicht aufschneiden, meine Hände zittern“, sagte der Vater, als ich ihm das Rasiermesser reichte.
„Hab keine Angst, Vati, ich werde brav sein. Sag mir nur, wenn du mit dem Schneiden beginnst.“
Der Junge nahm sich zusammen, fasste mich bei der Hand und sagte: „Nun mal los, Vati!“
Der Vater machte einen Schnitt durch das ganze Geschwür. Es entleerte sich im Nu vom weißlichen Eiter.
„Siehst du, Vati, es hat gar nicht wehgetan.“
Der Vater küsste den Jungen, streichelte ihn und küsste ihn wieder. Dann ging er fort, um seiner Erregung Herr zu werden.
„Jetzt sollst du aber schlafen“, sagte ich. „Du weißt, der Schlaf ist die beste Medizin.“
Aber schon nach zwei Stunden mussten wir wieder aufbrechen. Kein Arzt hätte es erlaubt. Wir mussten aber unbedingt weiter. Die Grenze musste nahe sein. Eine trügerische Hoffnung!
Wir verbanden das Bein des Jungen mit einem Fetzen, den ich von meinem Hemd losgerissen hatte, und stiegen bergauf. Er hinkte, benahm sich aber tapfer, klagte überhaupt nicht.
Es ging auf und ab. Es ging immer dem Westen zu. Oft liefen wir. „Du musst durchhalten“, sagte ich dem Jungen immer wieder.
Was er dachte, weiß ich nicht. Er ging mit zusammengepressten Lippen weiter, legte sich manchmal für ein paar Minuten und lief dann wieder ohne Zaudern und Widerspruch.
„Glaubst du, Vati, dass die Grenze dort läuft, wo die blauen Berge sind?“
„Es ist möglich. Ich weiß es nicht.“
„Kommen wir bald nach dem richtigen Finnland?“
„Recht bald. Vielleicht nach zwei oder drei Tagen schon. Dann aber – ja dann! Dann werden wir ausruhen. Wir werden keine Eile mehr haben, werden Tee kochen und Pilze braten.“
„Liebster Vati!“ freute sich der Junge. „Und eine GPU gibt es in Finnland nicht?“
„Nein, Junge, die gibt es nicht.“
Der Abend nahte nach diesem Tag erneuter Qual. In der Dämmerung schienen die fernen Berge näher zu sein. Abhänge aufwärts und abwärts, über Flüsse, auf Hügeln und in Tälern. Dann wieder Sumpf. Leuchtend grüne, mit Riedgras bewachsene Flächen wechselten mit Moor. Unsere Füße waren nass. Die Mücken setzten uns arg zu. Ab und zu versanken unsere Füße fast bis zum Knie im Wasser. Nirgends konnten wir haltmachen. So wateten wir, ohne den gegenüberliegenden Abhang sehen zu können. Neblige Nachtdämmerung hüllte uns ein, wir schleppten uns aber immer weiter. Ich wagte nicht, daran zu denken, wie es mit der Ferse des Jungen stand. Der Verband musste längst durchnässt sein. Wir waren alle erschöpft. Als wir aber einmal haltmachten, sagte mein Mann ganz plötzlich:
„Und trotzdem ist es besser, als im Gefängnis zu sitzen.“
Die Hütte
Es ist unmöglich, alles niederzuschreiben, was uns in den nächsten Tagen noch erwartete und was wir ertrugen. Wir schliefen in den Nächten nie länger als fünf Stunden, manchmal nur drei. Die Wunde unseres Jungen eiterte zwar nicht mehr, aber sie hatte sich vergrößert und schmerzte. Wir wateten bis zur Brust durch seichte, aber reissende und eiskalte Flüsse. Oft wurde mein Mann von Schüttelfrost und heftigen, unerklärlichen, inneren Schmerzen befallen. Der Proviant ging zu Ende, wir nährten uns hauptsächlich von Blaubeeren. Und die Erschöpfung ließ unsere Schritte immer langsamer, immer schleppender, unseren Atem immer schwerer werden.
Aber wozu all diese Qualen im einzelnen berichten! Es gab auch schöne und trostreiche Momente.
Eines Tages erreichten wir einen abgebrannten Wald, aßen dort und blieben eine Zeitlang sitzen, um uns auszuruhen.
Ich fühlte plötzlich einen auf mich gerichteten Blick. Als ich hinsah, erblickte ich etwa zehn Schritte von uns entfernt einen prächtigen Kapitalelch, der uns majestätisch und zugleich wohlwollend betrachtete. Es war ein herrliches Tier mit schönem, glänzendem Fell, wohlgenährt und selbstbewusst. Sein prächtiges, breites Geweih schmückte seinen Kopf wie eine seltsame Krone. Dunkle, runde Augen blickten klug drein.
Wie hilflos, wie verlassen und wie unglücklich waren wir im Vergleich zu diesem Elch! Er lebte und genoss hier sein Leben wie ein märchenhafter König. Alles ringsum gehörte ihm, Feinde hatte er nicht, Raubtiere gab es hier nicht, und Menschen ließen sich in dieser Einöde nicht sehen.
Um das edle Tier nicht zu verscheuchen, sagte ich den Meinigen kein Wort, sondern hauchte sie nur im Nacken an. Sie wandten sich um und erblickten den Elch. Wir betrachteten ihn alle drei einen Augenblick lang entzückt. Dann entfernte er sich von uns lautlos, blieb in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten stehen, wandte sich um und schaute uns noch einmal an. So verharrte er Augenblicke, und dann war er verschwunden.
Kein Laut, kein Geräusch, kein Krachen abgebrochener Zweige.
„Mutti“, wandte sich der Junge begeistert an mich, „es war doch wunderschön. Ich habe noch nie ein solches Tier gesehen.“
„Glaubst du, Dummerchen, dass es viele Menschen in der Welt gibt, die einen Elch in Freiheit von so nahe gesehen haben?“
„War es ein Elch, Vati?“
„Ja, ein Elch; jetzt ein seltenes Wild. In Finnland ist die Jagd auf Elche verboten, in der Sowjetunion werden sie auch jetzt noch gejagt. Voriges Jahr wurden etwa fünfhundert Elche, vielleicht sogar noch mehr, niedergeschossen.“
„Glaubst du, Vati, dass es ein finnischer Elch war? Er tat so wichtig.“
„Ich weiß nicht“, antwortete lächelnd der Vater.
„Er war so stolz wie ein englischer Lord und so wohlgenährt... Er kann kein russisches Wild gewesen sein. Und wie er laufen konnte! Glaubst du, Vati, dass er sehr schnell von hier nach Finnland laufen kann?“
„Vielleicht in einer Stunde, möglicherweise noch schneller.“
„Vielleicht sind auch wir schon in Finnland. Lieber Vati, haben wir die Grenze noch nicht überschritten?“
„Wenn ich das wüsste!“
„Wir sind in Finnland“, sagte ich, zwar nicht laut, aber auch nicht im Flüsterton.
Ich kann nicht behaupten, dass diese meine Feststellung unbedingten Glauben gefunden hätte. Vielleicht war ich auch selber nicht restlos davon überzeugt, obgleich ich alle erdenklichen Beweisgründe dafür anführte. Wir hatten gehofft, die Grenze in drei Tagen zu erreichen – und nun waren schon sechs vergangen! Noch immer wanderten wir durch eine wilde, unbewohnte Gegend!