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Teil 5
Die Monate in Moskau
Wie schrecklich muss die Lage sein, dass ein Mann all sein Hab und Gut stehen lässt und mit wenigem Geld in der Tasche sich ins Ungewisse stürzt, in der Hoffnung einen Auslandspass zu ergattern? Ist die Chance nicht viel zu groß, dass, wenn es nicht klappt, nachher alles noch schlimmer sein wird?
Wir können uns heute wohl überhaupt nicht mehr da hineindenken, was unsere Vorfahren durchgemacht haben. Aber es gibt Briefe und Berichte von ihnen und über sie. Diesen bin ich in der Zeitung “Der Bote” nachgegangen und ich stelle im Nachfolgenden nun etliche zur Verfügung.
Der erste Brief stammt von einem “M.H.”, der Mitte August, also im Hochsommer, nach Moskau gekommen ist. Er schreibt:
Mitte Oktober 1929.
Nach fünf Tagen sind es zwei Monate, dass wir uns in der Nähe Moskaus niederließen. Annähernd 800 Familien haben sich bis zum heutigen Tage angesammelt.
Täglich kommen weitere Familien hinzu, gestern beispielsweise 17 Mennonitenfamilien und etwa 10 lutherische. Sie berichten, dass die örtlichen Behörden, offenbar in Missbrauch ihrer Dienstgewalt, alle möglichen Zahlungen als Vorbedingung für die Erteilung der Abreisegenehmigung verlangen; nicht nur müsse die ganze Steuer für 1929—30 entrichtet werden, sondern auch die zwangsmäßige Versicherungsprämie für das ganze am 1. Oktober begonnene Wirtschaftsjahr, obwohl die Bauern, die sich zur Auswanderung entschlossen haben, ja bereits kein versicherungspflichtiges Eigentum mehr besitzen; für einen Betrag, der die Hälfte der Steuersumme ausmacht, müssen sie überdies Industrieanleihe kaufen. So wird erreicht, dass ihre aus dem Erlös der unter ungünstigen Verhältnissen verkauften Wirtschaften und Hausgeräte stammenden Barmittel sich auf einen ganz kleinen Betrag verringern. Die gegenwärtige Zahl der bei Moskau in den Siedlungen an der Nordbahn versammelten deutschstämmigen Kolonisten wird auf 875 Mennonitenfamilien, 150 lutherische und 60 katholische Familien angegeben.
Bemerkenswert ist, dass auch aus der Wolgadeutschen Republik die ersten Kundschafter eingetroffen sind, um zu prüfen, ob eine Auswanderungsmöglichkeit besteht, wozu nach ihren Angaben ganze Dörfer bereit sind. Aus den deutschen Kolonien in der Ukraine liegen von drei deutschen Dörfern geschlossen Auswanderungsanträge vor.
Es gäbe manches zu erzählen, aber das bleibt für spätere Zeiten. Wir beten täglich zu Gott, dass wir alle hier vor großem Elend bewahrt bleiben möchten, und dass er uns bald eine Tür öffnen möchte. In vielen Familien ist die Not schon groß. Aber trotz der vielen Schwierigkeiten sind wir doch guter Zuversicht, dass sich bald alles zum Besten wenden wird. Hört nicht auf, für uns alle zu beten. Das, was diejenigen noch durchwachen und durchzumachen haben, die auf ihren alten Hofstellen sitzen, lässt sich nicht in Worte kleiden. Die Vorgänge am Orte spotten jeder Beschreibung.
Wir haben einen großen, allmächtigen Gott, der da hilft, und in seiner Hand wissen wir uns auch hier. Darum sind wir getrost und wollen den Mut nicht sinken lassen.
M. H.
„Der Bote", Mittwoch, den 4. Dezember 1929
In der gleichen Ausgabe des Boten steht die folgende Mitteilung:
“Wir gedenken am 8. November von Gnadental nach Moskau abzufahren. Zum Liquidieren ist keine Zeit, es hat übrigens auch keinen Preis. Wir lassen alles stehen und laufen. Man sagt, wer nach Moskau kommt, der bekommt auch einen Pass. Wenn das so fortgeht, dann wird in diesem Monat das Dorf leer. Wenn ihr wüsstet, wie es im Grünfelder Sowjet zugeht, euch würden die Haare zu Berge stehen.
„Der Bote", Mittwoch, den 4. Dezember 1929
Diese gehören vielleicht zu den letzten, die die Ausreise geschafft haben.
Bericht aus Halbstadt, Südrussland.
In Moskau sitzen aus allen Gegenden der Sowjetunion über 1.000 Familien und warten auf die Ausreisepapiere. Etliche warten dort schon 3—4 Monate. Wem es von ihnen am nötigen Kleingeld fehlt, geht erbarmungslos unter. Hier sind schon viele so weit gekommen, dass sie riskieren wollen: kommen sie durch, so ist es gut, und wenn nicht, so ist ihre Lage nicht schlimmer als vorher. Wenn die Luft noch drückender wird und es gelingen sollte, einen Weg zu finden, dann geht auch der übrige Teil los. Habe soeben gehört, dass die ganze Gesellschaft in Moskau die Pässe erhält. Sollte dieses sich bestätigen, dann sind viele Tausende Familien bereit, ihnen zu folgen.
Den 1. Nov. 1929.
In Zeiten ohne Telefon oder Whatsapp verbreiten sich die Nachrichten scheinbar eben so schnell. Dieser Schreiber hat gehört, dass die Regierung geneigt ist, Ausreisevisa zu erteilen. Darin hat er Recht. Als dann Anfang Dezember die Bestätigung kam, dass tatsächlich einige tausend ins Ausland ziehen durften, hatte aber die Regierung ihre Politik geändert und schickte alle zurück.
Bericht aus Moskau.
Die Emigrationsfrage ist bis zu kolossalen Dimensionen herangewachsen. Es geht hier etwas Nie dagewesenes vor. Überall verlassen die Mennoniten ihr Hab und Gut und strömen nach Moskau. Hier sind jetzt 2.000–2.500 Familien angesammelt. Welche Dimensionen die Bewegung angenommen hat, kann am Dorfe Steinfeld, Grünfelder Distrikt, veranschaulicht werden, wo etwa 30–35 % der Bevölkerung zurückgeblieben ist. Die größeren Koloniekomplexe der Ukraine sind ruhiger.
Vonseiten der Räteregierung werden die aller verschiedensten Maßregeln getroffen, um dieser Bewegung Einhalt zu tun. Von den Leuten, welche hier sind, werden Warnungen an die Kolonien geschickt. Bisher ist es ohne Erfolg. Da es jetzt keine mennonitische Organisation gibt, so ist kein regelndes Clemens vorhanden. Die „Ruskapa“ gibt keine Fahrkarten, da die kanadische Regierung noch nicht die Einwilligung gegeben hat, die Auswanderer aufzunehmen. Die Räteregierung hat für 700–800 Familien die Pässe bereit.
Die Mennoniten, auch viele andere Deutsche, halten sich in den Sommerhäusern längs der Nordbahn auf. Glücklicherweise ist bis jetzt kein starker Frost gewesen. Hernach wird es in den leichten Wohnungen empfindlich kalt sein. Sie haben sich von Hause etwas Produkte mitgebracht und zehren davon. Wenn diese erst verzehrt sein werden, wird Not und Elend seinen Einzug halten. Um 1–2 Monate wird sie groß sein. „Warum begehen die Leute auch solche Torheiten?“ werdet Ihr dort sagen. Es ist wahr, aber trotzdem will ich nicht den Stab über sie brechen und glaube, auch Ihr habt kein Recht dazu. Ihr solltet die Verhältnisse sehen, in welchen die Leute wohnen, wie sie bis 10 Mann in einem Zimmer ohne jegliches Möbel wohnen, und wie sie selbst die drohende Not nicht bewegen kann, wieder nach ihrem alten Heim zurückzukehren, und Ihr würdet tiefes Mitleid mit den Leuten empfinden.
17. Nov.— Die Emigrationsfrage ist in eine andere Phase getreten. Die Regierung hat auf urprimitive Weise den Zudrang nach Moskau abgesperrt und von hier etliche Dutzend der Letztangekommenen zurückgeschickt. Dadurch ist die Frage vorläufig für Euch bedeutend vereinfacht. Es wird sich in den nächsten Monaten um die Aufnahme von etwa 2.000 Familien handeln. Von einer weiteren Auswanderung kann erst nach 4–5 Monaten die Rede sein.
Dieser Briefschreiber rechnet damit, dass es im kommenden Frühling (Mai 1930) wieder möglich sein wird, ein Ausreisevisum zu beantragen und ahnt nicht, dass die nächste Ausreisemöglichkeit erst am Ende des Kommunismus, im Jahre 1989, stattfinden wird, lange nach seinem Tod.
22. Nov.— Vor etlichen Tagen hat sich die deutsche Regierung bereit erklärt, bis 13.000 Einwanderer aufzunehmen. Die Deutschen betrachten die Auswanderer mehr als durchziehende Leute. Sie hoffen, dass Kanada einen großen Teil noch im Winter, die meisten anderen im Frühling aufnehmen wird. Auch rechnet man mit der Möglichkeit, einen Teil in Brasilien anzusiedeln. Wahrscheinlich werden bei einer Überfahrt aus Deutschland wieder die Freikarten eine Rolle spielen.
Muss übrigens erwähnen, dass die Auswanderungsfrage ähnlich wie 1923 steht. Gegenwärtig gehen die entscheidenden Verhandlungen vor sich. Obzwar wir alle zusammen und jeder einzelne in Gefahr steht, nach Hause geschickt zu werden, so halten doch alle an der Hoffnung fest, dass ihr innigster Wunsch in Erfüllung gehen wird. Die meisten sind sich ihrer Pflicht bewusst. Die Reihen der aktiven Arbeiter werden immer lichter, und doch schreckt selten jemand zurück. In die Breschen treten frische Arbeiter, ja selbst die Frauen stellen sich zur Arbeit freiwillig, und wieder geht es unbeirrt weiter. Ich sehe hier den edlen Kern unseres Volkstums, wie ich ihn nie früher gesehen habe. Die nächsten Tage bringen die Entscheidung. Gott möchte verhüten, dass sie eine negative sein sollte.
Für die 13.000 Deutschen, die hier in Moskau sitzen, wäre dieses einer Verurteilung gleich, denn sie erwartet im besten Falle zu Hause ein leeres Haus, sonst nichts, und keine Existenzmöglichkeiten. Heute sind zwei hervorragende Ereignisse vorgefallen. Das Auslandskommissariat hat offiziell erklärt, dass unsere Ausfahrt frei ist. Die Miliz und die Pol. Staatsverwaltung aber hat 3.000 — 4.000 Seelen zwangsweise fortgeschickt. Alles sitzt mutlos und wartet die nächste Nacht ab, ob sie ruhig verlaufen wird, oder uns alle nach unseren verödeten Wohnstätten im Süden bringt. Der Allmächtige möchte uns gnädig sein und das gebliebene Häuflein wenigstens glücklich hinüberführen.
(Eingesandt von H—Y.)
"Der Bote", Mittwoch, den 18. Dezember 1929
In einer Zeitung in Deutschland wurde folgender Bericht geschrieben, der in den Ausgaben des Boten vom 18. und vom 25. Dezember 1929 erschienen ist:
Deutsche Bauernnot in Sowjetrussland
(Vgl. Rolf Brandt im „Lokal-Anzeiger“ vom 15. Nov. 1929.)
Die letzten Nachrichten aus Russland zeigen täglich deutlicher den völligen Zusammenbruch der Getreidewirtschaft. Man will in einer Fünfjahresperiode die Landwirtschaft verstaatlichen, das heißt, auf dem Lande den Eigenbesitz zerbrechen und die Bauern in großen Schuppen einquartieren; Bauernarbeiter, die die Staatsgüter zu bewirtschaften haben. Etwa in der Art in Behausung und Lebensmöglichkeit afrikanischer Negerdörfer.
Ein Teil der russischen Bauernschaft, ein kleiner Teil, hat sich dem gefügt, ein anderer hatte sich in russischer Weise gegen die Beamten der „G. P. U.“ verteidigt, indem er kaum so viel anbaute, um die Familie ernähren zu können, indem er Möbel und Hausrat verkaufte, verschleuderte. Wo nichts da ist, hat auch die Tscheka ihr Recht verloren.
Der stärkste Stoß der Moskauer Bauern-Vivisektion musste sich gegen die deutschen Bauern Russlands richten. Zu dem Wunsch, den fleißigen und daher besser gestellten selbstständigen Bauer zu vernichten, kam die Gelegenheit, den Deutschen und den gläubigen Christen von Heimat und Scholle zu verdrängen. Irgendwelche Rücksichten auf die Wirkung dieser ganz ungeheuerlichen Maßnahmen in Deutschland brauchte nicht genommen zu werden. Seit dem Vertrag von Rapallo haben wir je und je die „bundesfreundliche“ Gesinnung der Sowjets erfahren. Sie denken selbstverständlich nicht daran — in Kenntnis der Mentalität der deutschen Regierungsstellen — auf Dinge Rücksicht zu nehmen, die mehr sind als Imponderabilien.
Furchtbare Tatsachen
Es handelt sich dabei um viele hunderttausend deutsche Menschen, fleißige deutsche Menschen, die Blut sind von unserem Blut und Christen sind wie wir und deshalb verfolgt werden. Es haben sich unter dem furchtbaren Druck der von der russischen Regierung mit Gewalt erzeugten Not Tausende von deutschen Bauern aus ganz Russland aufgemacht und sind nach Moskau gezogen. Es werden vor Moskau nun bei Beginn des Winters bis zwölftausend Seelen in den verlassenen Sommerdatschen vor Moskau kampieren, oft zu dreißig in einem Raum, wie die Bauern erzählt haben, die in Kiel sind.
Neben diesem Menschenstrom, dieser Völkerwanderung, die sich aufgemacht hat, um dem Tod zu entfliehen, gibt es da Hunderttausende der Zurückbleibenden. An der Wolga, an der Schwarzmeerküste, in Sibirien, am Ural, auf der Krim. Vor dem Kriege waren fast siebzig Prozent des Landes der Provinz Taurien in deutscher Bauernhand; die blühendste Provinz Russlands. Wer diese kleinen Dörfer und Städte gesehen hat, der weiß, was hier in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen wurde. Der Wohlstand ging dahin im Krieg, in der Revolution, in den Kämpfen danach. Es blieb der Reichtum einer großen Arbeitskraft, es blieben der Familienzusammenhalt und eine gerade und einfache Frömmigkeit.
Es liegt mir die Schilderung eines gebildeten Mannes vor, der soeben aus diesen Schwarzmeerkolonien, in denen Hunderttausende von deutschen Bauern wohnen, gekommen ist. Man will auch dort den „freiwilligen“ Eintritt der Bauern in die „Ackerbaukommunen“ erzwingen.
Man treibt es so: Die Tage sind kurz, der Bauer geht, um Beleuchtung zu sparen, schon früh schlafen. Um zehn Uhr nachts, aus dem tiefsten Schlaf heraus, holen ihn die Beamten der „G. P. U.“ aus dem Bett und schleppen den Taumelnden vor die Getreidekommission. Dort wird ihm eröffnet: „Du hast innerhalb von drei Tagen 2.000 Pud Weizen zu liefern!“ Der Bauer beteuert, er habe nur 500 Pud überhaupt geerntet, da es ja in diesem Frühjahr an Saatgut gefehlt habe. Er wird angebrüllt, er hätte dann sein Vieh, sein Haus, seinen Hausrat verkaufen müssen, um Saatgut zu besorgen. Sein Verhalten beweise, dass er ein Konterrevolutionär wäre, ein Verräter am arbeitenden Volke. Wagt der Bauer dann noch zu widersprechen, so wird sein Ablieferungsquantum einfach um 1.000 Pud erhöht.
Der Bauer geht nach Hause, verkauft am nächsten Tage sein Vieh bis auf ein Pferd, fährt zu seinen Verwandten, der Nachbarschaft und bringt es vielleicht fertig, in drei Tagen die geforderte Menge Getreide zusammenzukriegen. Bei der Ablieferung erklärte ihm lächelnd der staatliche Ankäufer: „Wenn du 3.000 Pud liefern kannst, so wirst du auch noch weitere 500 Pud haben.“ Nun kann der Bauer nicht weiter. Er muss das Getreide, das er aufgekauft hat, mit zwei bis drei Rubel für das Pud bezahlen — der Staat zahlt 90 Kopeken für das Pud. Am Stichtage erscheint die Tscheka und treibt ihn und seine Angehörigen aus dem Hause. Mitnehmen darf er nichts außer dem, was er am Leibe trägt. Bei der Auktion darf niemand zu bieten wagen, der Besitz verfällt dem Staat, der Hausrat wird fortgeschleppt, das Haus verschlossen oder zerstört.
Jetzt bleibt dem Bauer nur die Ackerbaukommune. Er und seine Frau gehen hin und zeichnen sich „freiwillig“ in die Landarbeiterliste ein. Sie kommen in die Landarbeiterbaracken; die Familie ist zerstört, sie leben wie das Vieh, die Kinder werden den Eltern fortgenommen, sobald sie entwöhnt sind, sie kommen in Kinderheime, wo sie entweder an Seuchen zugrunde gehen oder zu Kommunisten erzogen werden.
Aus anderen Berichten, die mir vorliegen und an denen nicht zu zweifeln sein ist, geht hervor, daß schon wenige Wochen nach der Ernte in den von den Bolschewisten heimgesuchten deutschen Dörfern in der Ukraine, in Westsibirien und an der Wolga kein Körnchen Weizen und Roggen mehr aufzutreiben war. Alle Schweine mußten bis auf ein einziges je Gehöft abgeliefert werden. Das Geflügel wurde geschlachtet.
Obwohl die Ernte in Südrußland diesmal gut ist, weiß jeder, daß eine neue furchtbare Hungersnot bevorsteht, weil man das geerntete Getreide nicht einmal fachgemäß behandelt. Der Mais dampft auf den Sammelbahnhöfen und beginnt schon jetzt zu verfaulen. Der Weizen ist wie von der Erde verschluckt und verschwunden. Vielleicht hat man die Gewissenlosigkeit besessen, ihn trotz der drohenden Hungersnot der Bevölkerung in das Ausland zu verfrachten, um Geld für Propaganda zu bekommen.
Selbst in den Teilen der Ukraine, wo durch den Zusammenhalt der Dörfer zwar die neue Not schon an die Türen pocht, aber noch nicht ganz in die Stuben getreten ist, merkt man, wie der Kampf um das Ganze, auf das Ende geht. Die religiösen Verfolgungen nehmen von Woche zu Woche zu. Die Pastoren sind rechtlos und mittellos, sie leben von der Mildtätigkeit. Um von einem Dorf in das andere, das Filial-Dorf, zu fahren, um zu predigen, müssen sie jedesmal in der Kreistadt die Erlaubnis anfragen, sonst setzt es Geldstrafen, die die verarmten Dörfer nicht mehr aufbringen können. Diese Massregel unterbindet praktisch den Gottesdienst im Nachbardorf. Der Gottesdienst findet Nachts statt, da durch das Fünftagesystem, das die Woche abgelöst hat, alle Familienmitglieder zu verschiedenen Zeiten Feiertage haben - es wird absichtlich so gelegt, dass die Kinder zu anderer Zeit freien Arbeitstag haben als die Eltern. So besteht keine Möglichkeit, den Sonntag zu heiligen.
Verzweifelte Menschen haben gefragt, ob es überhaupt noch Christen auf der Welt gäbe, dass dieser ungeheuerliche Feldzug gegen das Christentum vor den Augen der Welt stattfinden könne. Wenn christliche Prediger noch auf Kanzeln stehen und von Christentum sprechen, dann dürfe die Welt nicht zulassen, dass wie zur Zeit der Türkenfeldzüge hunderttausende Bauern verfolgt, geschunden und in den Tod getrieben, nur weil sie Christen sind.
So sieht die Wahrheit aus. Man könnte noch viel mehr Einzelheiten geben; denn die Nachrichten kommen in beträchtlichem Maße aus Rußland, obwohl alles getan wird, um zu verhindern, daß sie die Grenzen verlassen. Wer weiß, daß er sterben muß, setzt sein Leben ein, um vielleicht doch dem Tod zu entgehen, setzt das Leben ein für einen Hilferuf; und sie fürchten alle, daß sie diesen Winter nicht überleben werden.
Die Bauern vor Moskau nicht und kaum die in den Kolonien, und sie wagen zu reden und in schlichter Verzweiflung mit ihren armen Worten an das Gewissen der Welt zu rütteln. Man soll wissen, was geschieht. Man soll sich klarmachen, ob die Seelenlosigkeit der Christenheit so weit geht, daß sie dies zuläßt. Es gibt keine Grenzen der Konfession, es handelt sich um Katholiken, Lutheraner, Mennoniten. Wenn irgendeine Kirche oder irgendein kirchliches Verbandsamt den Vorwand versucht zu nehmen, die Darstellung der Leiden sei übertrieben, so kann sie Kommissionen bilden, die an das Schwarze Meer hinuntergehen; ihre Berichte werden, da inzwischen der Winter fortgeschritten sein wird, grausigere Dinge berichten, als in diesen Zeilen stehen.
Der Feldzug gegen die Bauern, den der sowjetische Staat führt, ist aber schließlich auch ein Krieg gegen Rußland. Auch die Bauernwirtschaft soll auf ein System aufgebaut werden, das dem Wesen des Menschen widerspricht. Die Zustände in den Gemeinschaftsbauten sind, wie man berichtet, herrisch. Das Tier ißt bereits, seinen Hunger zu stillen, aber es wird keine Vorsorge für die Zukunft mehr treffen, denn es hat keine Zukunft. Verfaulender Weizen, leere Felder, zerfallene Häuser, verzweifelte, sterbende Bevölkerung. Darüber der Sowjetstern.
Allerdings soll man es nicht ertragen, daß man in Deutschland zusieht, wie zuallererst die deutschen Bauern geopfert werden und sterben sollen wie Viehherden ohne Stall im Winter.
Es gibt kein Versteckspiel: das Sterben beginnt. Die Christenheit in aller Welt muß wissen, daß sie dieser Christenverfolgung des Jahres 1929 nicht zusehen darf, ohne sich selbst aufzugeben.
"Der Bote", Mittwoch, den 18. und 25. Dezember 1929
Den 1. Nov. 1929.
Was wir hier in letzter Zeit erfahren, ist gar nicht zu beschreiben. Wir werden auf alle mögliche Art gequält. ........... gibt es viele Prediger, die eingesteckt werden, auch sie, so erzählt man, gehen nach Moskau, um auszuwandern. — Bei dieser Stimmung hört man nur das eine Wort „Moskau". Täglich fahren Leute ab. Die Panik ist groß. Man ist der Meinung, wenn man es jetzt verpasst, dann kommt man schon nimmer hinaus, dann ist's für immer zu spät. Von Moskau kommt das Gerücht, dass sie dort bald abfahren werden, dass man alle Mennoniten hinauslassen wolle. Zuerst waren es die Sibirier, die nach Moskau fuhren, jetzt geht es aber auch hier toll her.
E. S. G.
„Der Bote", Mittwoch, den 27. November 1929
"wenn man es jetzt verpasst ... dann ist's für immer zu spät". Einige also haben es geahnt, dass der Herbst 1929 die letzte Gelegenheit sein würde. Aber die ganze Welt steckte damals in einer sehr grossen Krise, Kanada verschloss seine Türen, Brasilien öffnete die Türen der Immigration, war aber wählerisch, was den Gesundheitszustand der Immigranten betraf. Paraguay stellte sich erst im Laufe des Jahres 1930 bereit, ohne Wenn und Aber jeden Menschen aufzunehmen.
Aber selbst wenn dieses früher geschehen wäre, wie sollten die zehntausenden Flüchtlingen aus Russland über den Ozean gebracht werden? Die Tragödie war unausweichlich. Nur ein ganz kleiner Teil der Leidenden konnte sich ins Ausland retten. Die Masse musste zurück in die Hölle.
Im folgenden kommt ein Bericht über die Reaktion Kanadas auf die Bitte der Mennoniten:
Anderson verschließt die Tür für die Einwanderung.
Regina, 21. Nov. (Can. Presse.)
Die letzte Entscheidung der Saskatchewaner Regierung über die Einwanderung im allgemeinen und der Mennoniten im besonderen ist in einer Darlegung zusammengefasst, die von Premier J. T. M. Anderson heute Morgen veröffentlicht wurde:
„Auf einem Meeting aller Regierungsmitglieder der Legislatur am Mittwoch in Regina wurde entschieden, dass unsere Politik die ist, in der gegenwärtigen Zeit nicht in die Aufnahme irgendwelcher Immigranten einzuwilligen."
(Nach dem „Prince Albert Daily Herald".)
„Der Bote", Mittwoch, den 27. November 1929
Ein bedauernswertes Telegramm an Premier Anderson und unsere Stellung dazu.
(Auszug aus dem Protokoll der halbjährlichen Beratung der Menn. Brüdergemeinden des Rostherner-Distrikts bei Dalmeny.)
Wie von verschiedenen Seiten verlautet, soll Premier Anderson seinerzeit, als viele Mennoniten in Russland fluchtartig ihr Heim verließen und in ihrer größten Seelen- und Leibesnot den Versuch machten, über Moskau und Deutschland nach Canada zu gelangen, von einigen Mennoniten, unter ihnen auch zwei Glieder der M. Brüdergemeinde des Rostherner Distrikts, ein Telegramm erhalten haben mit der Bitte, diesen Flüchtlingen die Einreise zu verweigern.
Der Leiter der Beratung, Br. Jakob Lepp, hebt hervor, dass, wenn das ganze Deutsche Reich mit seinem edlen Präsidenten an der Spitze die Not unserer Glaubensbrüder für so groß hielt, dass es ihnen Gastfreundschaft in höchstem Maße gewährte und mit Millionen unterstützte, es eine Schmach sondergleichen für den Namen Christi bedeute, falls wirklich Glieder unserer Gemeinden an solchem Telegramm beteiligt wären.
Äußerungen anderer Brüder verlangen, dass die Absender des Telegramms unbedingt von der betreffenden Ortsgemeinde zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Zum Schluss fasst die Beratung ohne Gegenstimme folgende Resolution: „Wir verurteilen von ganzem Herzen die Handlungsweise der Absender des Telegramms als unchristlich und erklären, dass wir als Brüdergemeinden Rostherner Distrikts nichts damit zu tun haben."
Auf Wunsch der Beratung eingesandt vom Sekretär P. P. Nickel.
(Aus dem „Courier".)
"Der Bote", Mittwoch, den 7. Januar, 1930
Als die Not am allergrößten war, stand plötzlich ein Mann auf und ließ seine mächtige Stimme, besser gesagt, seine mächtige Feder erschallen: Benjamin H. Unruh. Seine Schrift “Mitten im Sturm” wurde weltberühmt. Viele Zeitungen druckten sie, auf mennonitischen Kanzeln wurde sie vorgelesen:
Mitten im Sturm!
Ein Hilferuf an die Mennonitengemeinden Amerikas und Europas
B. H. Unruh, z.Z. Berlin
Es ist tiefe Mitternacht. Es rast der Sturm! Alle Sterne sind erloschen! Das Schiff kracht in allen Fugen! Wir verderben!
Zitternd greifen die Hände nach dem ewigen Buch auf dem Tisch, das alles weiß, alles versteht, alles in die Sprache der Ewigkeit dolmetscht, alles so sagt, dass es das Kind versteht und der reife Mann, dass es das zerstoßene Herz gesund macht und den geängstigten Geist wieder zur Klarheit bringt, zu größerer Klarheit im Denken und Handeln.
„Finsternis ist nicht finster vor Dir. Die Nacht ist wie der Tag!"
Es ist ein Wort voller Torheit für die, die in ihrem eigenen Licht leben, und es ist ein Wort voller Kraft und unvergänglicher Weisheit für die, denen alle irdischen Lichter erloschen sind, denen die Hoffnungen wie Seifenblasen an der grinsenden Mauer zerplatzen, denen die Arme am Leibe herunterfallen, die nur noch schreien können: „Wir verderben!"
Man sagt, dass ein Mann, der am Ertrinken ist, seine Mutter ruft. Nicht Weib und Kind, nicht Bruder und Schwester – die Mutter!
Wir haben neben der leiblichen Mutter noch eine geistige. Das ist die Gemeinde, die Kirche, die uns schon als Kinder an der Hand genommen und zu uns gesagt hat: „Kind, fürchte und liebe Gott über alles und folge nach dem Erlöser, der sein Leben für uns gab!"
Seht, meine Freunde, für unsere Brüder im Osten hat in der schwarzen, stürmischen, in der unheilvollsten Nacht, die sie jemals erlebt haben, die Stunde geschlagen, wo sie alle nach der Hand der Mutter, dieser Mutter greifen.
O dieser Griff! O diese Augen voll Angst und Sehnsucht; voll Bitte und Zuversicht! Wer fühlt diesen Griff nicht, der so krampfhaft ist wie der Griff eines sterbenden Kindes? Wer erbebt vor diesem Blick nicht, der schon nur halb in dieser Welt lebt, der schon hinüberschweift in jenes Land, wo keine Nacht ist und kein Sturm? Dieser Griff und dieser Blick trifft die Mutter, die Gemeinde, unsere liebe, wenn auch kleine, wenn auch gebrechliche und keineswegs sündlose Gemeinde.
Und siehe da: dieser Griff, dieser Blick, dieser Schrei – sie sammeln uns wie in den Erstlingszeiten der Christenheit, als sie „alle" eines Herzens, einer Seele waren, als niemand etwas sein nannte, als ein jeder des andern Last trug, und jeder darin Christi Gesetz, die von Christus gelebte, geheiligte Lebensordnung erfüllte!
Ich höre hier in Berlin in dieser Mitternachtsstunde, in dieser stürmischen, dunklen Novembernacht, den Schrei der Zehntausend – ob es morgen nicht schon viel mehr sind? – und ich rufe diesen Schrei hinüber über das weite Meer!
Ihr Ältesten, die Ihr bestellt seid als die verantwortlichen Hirten der Gemeinden, die Ihr so viel gesehen und erfahren von Erdenwehen und Gottestrost: an Euch hängen sich die Arme der Armen und flehen Euch an, dass Ihr mit heiligem Wort, in gebetvoller, zündender Rede die Liebe und den Willen zur Fürsorge in die Herzen aller Eurer Gemeindemitglieder, der kleinen und der großen, der reifen und der noch unerfahrenen, hineinlegt, hineinschleudert, damit das ganze Haus von Ost nach West, von Süd nach Nord in heiliger Flamme stehe!
Ihr Prediger, stehet zur Seite den Ältesten, damit ihr Wort nicht leer zurückkomme! Was dort Tiefe ist, das lasst bei Euch Kraft sein. Schürt das Feuer, dass es einen Schein in die dunkelste Kammer und in das gleichgültigste Herz trage. Seid ritterlich! Werfet von Euch jedes menschliche Bedenken und offenbart den Mut von Helden, die ausziehen, um zu siegen!
Ihr Väter und Brüder, Ihr Mütter und Schwestern, Ihr Knaben und Mädchen, Ihr Schulkinder, Ihr Studenten und Professoren, Farmer und Geschäftsleute – Ihr alle, alle scharet Euch in Reih und Glied, um noch eine bessere Schlacht zu schlagen als all die Jahre! Es war nie eine schwärzere Nacht in unsrer Geschichte als diese. Aber gerade in dieser dunkeln Nacht soll die Liebe leuchten, stark, heiß, ohne Furcht!
„Finsternis ist nicht finster, die Nacht ist wie der Tag!" – das geht dann in Erfüllung, das ist dann ein Wort, das zum Leben ward!
Was sollen wir tun?
Vor allem auf Gott hören, von Ihm Liebe nehmen! Vor allem Ihn bitten! Im Kämmerlein, im Tempel! Im Hause und in der Gemeinde! Und dann aus der Großmut Gottes heraus die Großmut dem Nächsten geben.
Wir müssen große Opfer bringen. Größere als je zuvor. Nicht rechnen, sondern sich im Geben vergessen, so geben, dass auch in der Todesstunde noch etwas davon nachzittert, dass in der Nacht dann etwas vom Schein gelebter Christusliebe uns scheint.
Ihr Emigranten, Ihr bereits Geborgenen, zahlt die übernommenen Schulden ab. Tut es! Tut es heute, tut es noch vor Sonnenuntergang, damit auch in der Geschäftswelt etwas von dem Licht sichtbar werde, das unter uns brennt, damit in ihr ein neues, großes, ja ein begeistertes Vertrauen zu den sittlichen Werten entstehe, die unser Gemeinwesen durchwalten. Vergesst nicht, o Freunde, dass Eure Gewissenhaftigkeit eine Fackel sein kann, welche Gott brauchen will, um die Nacht bei Moskau und weiter im Osten und im Süden zu zerstreuen. Ihr sollt so dürfen Engel Gottes sein, und werdet dann nicht als solche erfunden werden, die gegebene Grundlagen weiterer Hilfe zerstören. Wer seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, noch nicht nachkommen kann, der sage es mit offenem, wahrhaftigem Wort, der bitte, und in seiner Bitte wird auch wieder ein Licht leuchten, das die Nachbarn erwecken wird, mitzuhelfen.
Ihr Einheimischen, helfet weiter mit Herberge, mit Brot und Bett, wie ihr es tatet. Und Ihr, die Ihr für die Einwanderung der Russland-Deutschen Euch nicht begeistern konntet, werfet jetzt Eure Bedenken von Euch! Euch ist Gelegenheit gegeben, Tränen zu trocknen! Und mag vieles einmal in Eurem Leben leidtun, aber niemals werdet Ihr bereuen, die Liebe, Güte, Fürsorge für Menschenkinder, die im Sturm und in der Nacht um Rettung geschrien.
Ihr Wohlhabenden, greifet hinein in Euren Überfluss, um nach „Gut-Dünken“ den Darbenden zu geben. Ihr Ärmeren und ganz Armen, bringet Euer Scherflein herbei, dass es der Erlöser segne, so dass es Wunder verrichtet. Du Jugend, die du heroisch fühlst, verzichte auf den Kinobesuch einmal, zweimal in der Woche, damit die Ersparnis in die Wohltätigkeitskasse fließe. Ihr Hausfrauen, Ihr Landwirte, lasset Eure Hand ausgestreckt sein, um zu helfen und immer wieder zu helfen!
Was mag daraus werden?
Ich will es Euch sagen: daraus wird für unsere Mutter ein neuer Morgen, ein neuer Tag! Davon werden Kinder und Kindeskinder zehren, das wird ein Jungbrunnen sein für unsere Gemeinden in Amerika und in Europa. Es ist uns durch diese große Verlegenheit die allergrößte Gelegenheit gegeben, das zu sein, was wir zu sein bekennen.
Doch nun einige trockene Tatsachen: Die kanadische Regierung verlangt feste Garantie für die, die ins Land gelassen werden. Die Einwanderer sind ganz mittellos. Ihnen ist alles fortgenommen. Sie sind nun auf Hilfe angewiesen, bis sie wieder arbeiten und ihr Stück Brot essen können. Rosthern allein kann die erwünschte Garantie nicht geben!
Helft! Helft! Helft!!
Die Leute müssen auf Kredit nach Kanada gebracht werden. Das gibt ungeheure Belastung gegenüber der Schiffslinie, die Kredite gewährt. Es gilt, hierin ganz systematisch mitzuhelfen, weil sonst der Name unserer Mutter entehrt würde. Es muss hier verständig gewirtschaftet werden, und dann müssen all unsere Männer, die Überlegung haben, miteinander denken und raten, wie man es machen soll, um rasch und wirksam zum Ziel zu gelangen. Ich glaube an den gesunden Menschenverstand in unseren Reihen! Auf, mobilisiert eure ganze wirtschaftliche Fähigkeit, um etwas Außerordentliches zu schaffen! Lasst keine Kraft brach liegen, holt die, die abseits stehen, heran, und lasst uns in Eintracht und Brüderlichkeit das ungeheure Problem meistern!
Ein Teil kommt für Kanada nicht in Frage, wohin mit ihnen? Paraguay, Peru, Argentinien, Brasilien, West- und Ostpreußen – ich werde von Projekten überrannt, ich ertrinke fast in Projekten, die man die Frage an mich heranbringt. Deutschland kann wirksam gar nicht helfen, jedenfalls kein Geld schenken! Wir bitten um Vorschüsse, ob wir sie bekommen werden, weiß ich noch nicht. Diese Tage entscheidet sich die Sache vielleicht zu unseren Gunsten. Aber man verlangt Garantien! Und da greife auch ich, der ich alles andere als ein Geschäftsmann bin, nach der Hand unserer gemeinsamen Mutter in allen Ländern.
Heute habe ich es energisch und doch nicht hochmütig, wohl aber mit fliegendem Herzen bezeugt: wir werden es schaffen!
Ich habe mich berufen auf Scottdale, Newton, Hillsboro, Oberursel, Winterswijk, Rotterdam, auf all die großen und kleinen Konferenzen, auf das Mennonite Central Committee, das so Großes tun durfte, ich habe auf das Riesenwerk in Kanada verwiesen, ich habe aber auch unsere Sorgen und Nöte nicht verschwiegen, und sollte man von mir die schriftliche Erklärung verlangen, dass die Mennoniten etwaige Vorschüsse in einer Reihe von Jahren abdecken werden, so werde ich unterschreiben, indem ich mit der einen Hand den Federkiel ergreife und mit der anderen die Hand der Mutter. Die Mutter wird ihr Kind vor der Welt, die jetzt auf uns alle schaut, nicht zuschanden werden lassen!
Ich höre ein gütiges „Nein, niemals!" aus allen Ländern der Welt, und so wage ich es, der Mennonitengemeinde Funktionär hier zu sein, bis die Unterschrift forderungsgemäß von anderer Hand oder anderen Händen geleistet wird!
B. H. Unruh Europäischer Vertreter der Can. Men. Board of Col.
„Der Bote", Mittwoch, den 4. Dezember 1929
Als B.H.Unruh dieses schrieb standen zwei Dinge fest:
1. Kanada würde die Tausende Flüchtlinge vor Moskaus Toren nicht aufnehmen;
2. Wenn nicht dringend eine neue Tür gefunden werden würde, würde die russische Regierung, anfänglich gewollt die Mennoniten auswandern zu lassen, alle zurückschicken, was ein unbeschreibliches Leid hervorbringen würde.
Als Brasilien dann seine Einwilligung verkündete, konnte die Ausreise aus Russland beginnen. Leider war es für viele schon zu spät. Denn viele waren schon zwangsweise zurückgeschleppt worden, weil Kanada die Türen verschlossen hatte.
Die Deutsche Regierung unterstützt die hilflosen Mennoniten.
Berlin, den 19. November. (Ass. Presse.)
Das deutsche Kabinett beschloss in der heutigen Sitzung, mit Russland in Verbindung zu treten, um den Leuten, die vor 150 Jahren dort eingewandert sind, und die jetzt nach Kanada und Argentinien auswandern wollen, zu helfen, insbesondere aber den 6000 unter ihnen, welche in Moskau gestrandet sind. Der deutsche Geschäftsträger in Moskau ist angewiesen worden, bei der russischen Regierung vorstellig zu werden, um die Abreise der Emigranten nach Deutschland zu beschleunigen.
Gestern beschloss das Kabinett, eine gewisse Summe zur Unterstützung dieser Bauern zu verwenden, und ernannte ein Mitglied des Reichstages zum Unterstützungskommissar. Präsident von Hindenburg spendete heute 200.000 Mark (ungefähr 50.000 Dollar) aus den Summen, die zu seiner persönlichen Verfügung stehen, für das Rote Kreuz und andere Wohltätigkeitsorganisationen, zur Unterstützung dieser deutschen Emigranten. Außerdem erließ er einen dringenden Aufruf an alle Deutschen des In- und Auslandes, nach Kräften mitzuhelfen.
Die Regierung erklärte, dass sie die Arbeit des Roten Kreuzes und ähnlicher Organisationen, die an diesem Werke arbeiten, voll und ganz unterstützen werde. Die erste Partie dieser Emigranten, 323 an der Zahl, kam, aller Mittel entblößt, am 11. November in Kiel an. Sie erzählten, dass die russischen Behörden alle Gelder bei ihnen konfisziert hätten.
„Der Bote", Mittwoch, den 27. November 1929