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Russland, 1929,

Monate vor dem Auszug

Teil 1

  

     

       Die Trostlosigkeit der Lage der Mennoniten Russlands im Laufe de Jahres 1929 ist zu erkennen in einem Brief, der in der Ausgabe des "Boten" vom 16. Oktober (im Herbst) veröffentlicht wird:

       “Gegenwärtig ist hier die Zeit der Erntefeste. „Man freut sich," sagt der Psalmist, „wie man sich in der Ernte freut," aber nichts davon spürt man in diesem Jahre. Die Ernte ist ja gut, über Mittel, da sollte der Mund voll Rühmens und Denkens sein, aber — „wofür soll ich danken, ich halte ja nichts für mich, ich habe weniger als im vorigen Jahre bei der Missernte", das sind die Äußerungen der Festgäste. Gewiss ist das unrichtig! Das Vieh hat doch reichlich sein Futter, wenn auch nicht Korn, so doch Heu, Mohar. Auf wen sollen wir uns verlassen? „Herr, ich hoffe auf dich!"

(Eingesandt ohne Unterschrift.)

 

     Die Sowjets denken, dass sie das ganze Leben der Menschen umgestalten können. Sogar den Wochentagen geben sie neue Namen. Wir lesen im "Bote":

     Aber was wohl am wichtigsten ist — es wird eine ganz neue Schulordnung eingeführt, eine Ordnung, die tief in unser Familienleben eingreift. In den Schulen wird von nun an der sechste Tag gefeiert, d.h. der sechste Tag ist ein Ruhetag. Die Woche besteht nicht mehr aus sieben, sondern aus sechs Tagen, und die Tage werden auch anders benannt. Sie heißen nun: Erster Arbeitstag, Vormittwoch, Mittwoch, Nachmittwoch, letzter Arbeitstag und Ruhetag. Also jeden siebten Sonntag nur feiern wir zusammen (Gottesdienst in der Kirche) mit unserer schulpflichtigen Jugend. Das sind Änderungen von weittragender Bedeutung.

       Wirtschaftlich sind folgende Hauptsorgen: Landwirtschaftssteuer, Selbstbesteuerung, Industrieanleihe und Getreidebeschaffungskampagne. Eine Kampagne überstürzt die andere. Dann noch die verschiedensten Organisationen, d.h. das Neuorganisieren von Kooperativen, Kollektiven usw. Es gibt die verschiedensten Genossenschaften, und überall muss man Mitglied sein. Es bestehen heute bei uns: eine Verbrauchsgenossenschaft (früher Konsum), dann eine Kreditgenossenschaft, eine Molkereigenossenschaft, und jetzt soll im Laufe von 30 Tagen eine Brotgenossenschaft organisiert werden. Diese muss das Getreide vom Bauern einsammeln, wenn nötig, die Saat beschaffen usw. Also auch bei uns wird feste gearbeitet, ja man möchte sagen, vielleicht manchmal etwas zu intensiv.

„Der Bote", Mittwoch, den 23. Oktober 1929

 

     Die Macht des Glaubens der Mennoniten kann scheinbar nicht bezwungen werden. Da haben die Kommunisten eine Idee. Sie führen eine Neuerung ein. Nun gibt es

„Rote Taufen"

     Im Kampfe gegen die Kirche wenden die Bolschewisten neuerdings ein eigenartiges Mittel an; im Gegensatz zu der Kirche, die aus den Brunnen Gottes tauft, taufen sie die Kinder im Namen der Gottlosigkeit. Sie entlehnen aber der Kirche die feierliche Handlung, weil sie erkannt haben, dass man dem Volke irgend etwas als Ersatz bieten muss. In einem russischen Dorfe wurden zwei, in einem anderen Dorf vier Kinder kommunistischer Eltern auf diese feierliche Weise der Gottlosigkeit geweiht. Man hatte sich dazu einen Tag ausgesucht, an dem die übrige Dorfbevölkerung ein christliches Fest feierte. Nach dem Taufzeremoniell wurden heftige Reden gegen die Priester gehalten, denen die bolschewistischen Redner Unterstützung der reichen Bauern und Widerstand gegen die Sowjetregierung zum Vorwurf machten. Ob das neue Mittel mehr ziehen wird als die bisherigen, ist zweifelhaft.

„Der Bote", Mittwoch, den 30. Oktober 1929

     Die Kinder im Namen der Gottlosigkeit taufen. Beim Taufen setzen die Eltern dem Kind eine Bestimmung hin, sie weihen das Kind in etwas ein, etwas Erhabenes, das dem Kind im Leben Richtung geben soll. Welch erhabene Ziele konnten die Kommunisten einem Elternpaar vorlegen?

     Es wäre interessant festzustellen, wie lange diese Anweisung befolgt wurde.

     Es gibt aber Berichte darüber, was aus den Kindern wurde, die in sowjetische Erziehungsheime gebracht wurden:

Die Folgen bolschewistischer Erziehung

    In Lubertzy nahe Moskau, wo sich ein Erziehungsheim in Gestalt einer Kinderkolonie für etwa 80, meist moralisch defekte Kinder befindet, wurden der kommunistische Leiter Petraschin und ein kommunistischer Lehrer auf dem Wege zum Bahnhofe überfallen, durch Messerstiche schwer verwundet und in hilflosem Zustand auf das Eisenbahngeleise geworfen. Der Lehrer wurde vom nächsten fahrplanmäßigen Zug überfahren und durchgeschnitten, während es dem Anstaltsleiter gelang, sich von den Geleisen fortzubewegen. Er starb jedoch anderen Tags im Krankenhaus. Seine letzten Worte waren: „An uns haben sie sich gerächt."

    Ein Raubüberfall liegt nicht vor, da bei beiden Getöteten größere Geldsummen gefunden wurden. Am nächsten Tage brach in der Kinderkolonie Feuer aus; offenbar Brandstiftung. Von den Tätern fehlt jede Spur, doch wird jetzt bekannt, dass sechs ausgebrochene Zöglinge seit dem Frühjahr bereits in der Umgegend ihr Unwesen treiben. Dieser durch seine Grausamkeit hervorstechende Fall steht nicht allein. Häufig sind erhebliche Missstände und Revolten in Erziehungsheimen bekannt geworden, wo aufsässige Kinder ihre Erzieher terrorisieren.

     In einem Moskauer Vorort fand man im Frühjahr den Leiter eines solchen Erziehungsheims tot ans Kreuz geschlagen. Eine früher als Musterkolonie geltende sogenannte Kinderstadt wurde von den Zöglingen, die fast alle bewaffnet waren, in kürzester Zeit laut amtlichem Bericht derart zugerichtet, als habe sie ein schweres Erdbeben hinter sich.

     Es müssen deshalb Zweifel aufkommen, ob diese Missstände noch ohne grundsätzliche Änderung der hier geltenden Erziehungsmethoden beseitigt werden können.”

„Der Bote", Mittwoch, den 30. Oktober 1929

 

      Die „Heimatlosen“ (gemeint sind die heimatlosen Kinder und Jugendlichen), erscheinen wieder in den Moskauer Straßen. In einer einzigen Nacht (24.—25. Juli) wurden über 1500 heimatlose Kinder von der Polizei in Moskau auf den Straßen aufgelesen und mit zur Wache genommen. Eine Anzahl von diesen Kindern waren aus verschiedenen russischen Kinderheimen entwichen. Wie groß ist doch das Kinderelend in Sowjet-Russland!

„Der Bote", Mittwoch, den 30. Oktober 1929

 

      Die verzweifelnde Lage der Gläubigen in Russland führt dazu, dass man auch fremden Lehren Glauben schenkt:

     “Sektierer lehren, dass das zweite Kommen Jesu auf Erden im Jahre 1933 stattfinden wird, wo Er dann die Gerechten und Ungerechten richten wird, in erster Linie aber die Jünger des Antichristen, die Kommunisten.

„Der Bote", Mittwoch, den 30. Oktober 1929

     Menschlich gesehen war die Lage hoffnungslos. Nur noch das Kommen könnte sie aus dieser Hölle erlösen.

     Der letzte Zar wurde im Jahre 1918 von den Kommunisten ermordet. Inmitten der grössten Verzweiflung verbreitet sich plötzlich das Gerücht:

“Der Zar und seine Familie sollen leben?

     Aus Dänemark kommt folgende sensationelle Nachricht:

Kopenhagen, den 19. Okt. — Das neueste Gerücht, das unter den russischen Emigranten zirkuliert, dass Zar Nikolaus und seine Familie noch leben, hat durch unlängst aus Berlin eingetroffene Nachrichten neues Interesse gewonnen. — Eugen Brandt, der Präsident der Kopenhagener Abteilung der Internationalen Russischen Monarchistischen Organisation, fuhr anfangs dieser Woche nach Berlin zu einer Konferenz mit den Herren I., der früher Sekretär des Zaren gewesen sein soll, und Betschejew, einem Mitgliede der russischen Kolonie in Berlin, durch den die neuesten Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden. Herr Brandt kam heute von Berlin zurück und erzählte: „Ich habe absolut sichere Beweise, dass der Zar lebt". Zwei Jahre lang wussten um diese Tatsache viele Monarchisten in der ganzen Welt, aber Betschejews Broschüre offenbart jetzt das Geheimnis. "Ich habe mit der Großfürstin Olga, der Schwester des Zaren, die hier in Kopenhagen im Exil lebt, gesprochen und ihr alles erzählt, aber sie wagt nicht, an die Wahrheit des Gesagten zu glauben."

     Herr Betschejew beabsichtigt, alle Fälle in der russischen Emigrantenzeitung „Wosroschdenje", die in Paris erscheint, zu veröffentlichen. Wir haben positive Beweise, dass die kaiserliche Familie am 16. Juni 1918 in Jekaterinburg nicht umgebracht worden ist, obzwar ich nicht sagen kann, wo sie sich gegenwärtig befindet. Auch der Großfürst Michael mit seinem Sekretär sind zu derselben Zeit gerettet worden, was nächstens veröffentlicht werden wird."

     Hier ist auch wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.

„Der Bote", Mittwoch, den 6. November 1929

 

     Je grösser die Verzweiflung desto leichter ist es, die Menschen mit irgendwelchen Hoffnungen zu verführen. Am meisten werden Prediger verfolgt:

     ... die werden anders besteuert. An sie wird anders herangetreten. Ein Beamter: „Wir werden sie als unerwünschtes Element totmachen, konetschno ne dubjom, a rubljom" (Nicht mit dem Beil, sondern mit dem Rubel).

     Als Prediger Dycks Steuerkarte im Vollzugskomitee ausgefertigt wurde, erzählt man, habe man gefragt, ob er der sei, der für die Gemeinden arbeite und fahre.

      „Ja. Dann lass ihn zahlen. Der braucht nur einmal seinen himmlischen Vater anzurufen, dann gibt er ihm das nötige Geld dazu.

     Das wissen wir übrigens auch, dass der himmlische Vater ihn und seine Familie und uns alle nicht im Stiche lassen wird, aber ob er uns so führen wird, wie wir es möchten und wünschen, das ist ja die Frage, vor der wir stehen.

„Der Bote", Mittwoch, den 20. November 1929

 

     Immer wieder haben Mennoniten versucht, ins Ausland zu ziehen. Hier ein Kurzbericht:

     Die Auslandspässe sind auch eingefroren. Kürzlich fuhr jemand mit seinem Nachweis zur Stadt, um den Pass zu bitte. Man zerriss das Papier, warf es in den Papierkorb und sagte lakonisch: „Dort ist Ihr Amerika!“

    Wie lange dieses anhalten wird, weiß man nicht.

„Der Bote", Donnerstag, den 1. Mai 1929

 

     Von Grausamkeiten wird berichtet (Der Bote, 31.07):

     Das Getreide reicht nicht zum Essen, und in mehreren Gouvernements wird Menschenfleisch gegessen. „Wenn's doch Auswanderungspässe gäbe", hört man täglich sagen, „ich kröche auf allen Vieren bis zur Grenze."

    Und doch hört man von Mennoniten, die nach Amerika ausgewandert sind, die da seufzen: „Ach, wären wir bei den Fleischtöpfen in Russland geblieben.” Toren, die nicht ahnen, wie es hier steht, und was noch alles kommen kann!

      Man würde jeden Preis zahlen, um ins Ausland zu kommen.

     Der Bote, 3. Juli:

     Seit Ostern schon haben viele Familien, frühere Landbesitzer, ihre Häuser in den Dörfern unverkauft stehen lassen müssen; sie waren gezwungen, sich anderswo ein Heim zu suchen. Die Zeit, welche solchen Leuten gegeben wird, um ihre Wirtschaft, ohne die Häuser zu liquidieren, ist so kurz – fünf Tage, dass mancher in der Zeit nicht fertig wird.

     Jeder, der früher mehr als eine Vollwirtschaft gehabt hat, oder jetzt noch ein einigermaßen gutes Gebäude besitzt, zittert und fühlt sich unsicher.

    Man muss in dieser Zeit mit allem Möglichen und Unmöglichen rechnen.  Wäre die Auswanderung nicht aufgehoben, viele würden noch hinausgehen. Man würde stellenweise schier dörferweise auswandern!

    Die (menschlich gedacht) absolute Aussichtslosigkeit für die Zukunft hier hat eine Stimmung geschaffen, wie sie früher nicht einmal zu den schwersten Zeiten des Bürgerkrieges sich gezeigt hat. Nur eins, meint man, kann uns noch retten: Fort von hier! Es würden sich gegenwärtig wohl sehr, sehr wenige finden, die nicht bereit wären, all ihr Hab und Gut herzugeben für Reisepässe und für Eisenbahnfahrkarten.

     Selbst dann, wenn die schöne Mär Wirklichkeit werden könnte, dass in diesem Jahr 10.000 Mann nach Kanada hinübergeschafft werden sollen, und wenn dann die Emigration in den nächsten Jahren in demselben Tempo fortgehen könnte, selbst wenn es keine Zurückstellungen wegen Krankheit gäbe, so würde es doch wenigstens 7 Jahre dauern, ehe die letzten von den wenigstens 70.000 hinüber kämen, die gegenwärtig hinauswollen.

„Der Bote", Mittwoch, den 14. August 1929

 

     Der Gründer der Allianz-Gemeinde im Hochfeld bei Nikolaipol, Pr. B. B. Dyck, hat seine Wirtschaft verkauft und setzt nun alles dran, um die Ausreise-Erlaubnis zu bekommen. Dadurch ist er bereits ganz arm geworden. Ein Beispiel, wie gerne man fort möchte! (2. Mos. 2, 24 und 25.)

„Der Bote", Mittwoch, den 28. August 1929

     Nun folgt der Bericht einer Geschichte, die in vielen Mennoniten Hoffnungen geweckt hat:

Die Heimkehr der schwedischen Siedler aus Sowjetrussland.

     Neunhundert schwedische Siedler aus der Ukraine haben am 1. August wieder schwedischen Boden betreten. Vor 150 Jahren waren ihre Vorväter aus Dagö vor der heutigen estländischen Küste ausgewiesen und nach einer leidvollen Wanderung durch Russland in der Ukraine zwangsweise angesiedelt worden.

     Die Geschichte dieser Siedler ist reich an Beweisen für die Stärke und Zähigkeit der nordisch-germanischen Rasse. Denn diese schwedischen Bauern lebten mitten in der Ukraine zurückgezogen wie auf der nordischen Insel weiter. Heiraten außerhalb des Dorfes war verpönt. Schwedische Sitte und schwedische Sprache blieben erhalten. Pfarrer, Glöckner und Schullehrer hielten die Gemeinde zusammen. Von Generation zu Generation vererbte sich auch das evangelische Glaubensbekenntnis weiter, dessen Einwohner die Zahl 900 erreichten.

     Die Siedler hatten ihre neue Heimat lieben gelernt. Bis zu 10.000 Tonnen Getreide führte die Gemeinde aus, die Reichsten hatten bis zu 25 Stück Vieh im Stall. Unter der Bolschewistenherrschaft verarmten sie alle. Sie verloren ihr Vieh und hatten keinen Dünger mehr. Von Kunstdünger war viel die Rede, aber sie erhielten keinen. Es war einfach nicht mehr auszuhalten. Mitten im schwersten Kummer überfiel sie die Sehnsucht nach der alten Heimat. Schwierigkeiten stellten sich ein. Der Pfarrer reiste nach Schweden, wurde gewarnt. Aber das Heimweh und das Leid in Russland wurden übermächtig — sie wollten nach Hause, koste es was es wolle. Die Sowjets gaben nach sehr langwierigen Verhandlungen endlich die Erlaubnis zur Auswanderung, in Schweden verhielt man sich abwartend.

     Die Siedler verkauften ihre lose Habe so gut es ging. (Das Land war ihnen bekanntlich schon früher zwangsenteignet worden.) Viel bekamen sie nicht, und der Rest wurde noch während ihres Abzugs gestohlen. Aus den Nachbardörfern kamen sie herbei und rissen die Fensterrahmen und die Böden heraus. Von dem erlösten Gelde nahmen ihnen die Sowjets auch noch den größten Teil weg.

      Als man in Schweden nun merkte, dass es ihnen ernst um die Heimkehr war, dass sie ihren Willen um jeden Preis durchsetzten, begann man in Schweden helfend einzugreifen. Man sandte ihnen Rote-Kreuz-Delegaten bis Rumänien entgegen. Das Rote Kreuz mit Prinz Karl, dem Bruder des Königs, an der Spitze, veranstaltete Sammlungen und bereitete die Eisenbahnfahrt vor. Quer durch Europa zogen sie heim. Es war eine Triumphfahrt. Der Sieg des Heimwehs . . . Sie kamen teilweise barfuß und ohne Überkleider, aber nach Hause kamen sie doch. In Bukarest, in Wien und in Deutschland, überall brachte man ihnen Verständnis für die Flucht aus Sowjetrussland entgegen. In Pasewalk, Norddeutschland, erhielten sie noch einen Morgenkaffee, und die Musik spielte. . .

     In der Heimat kamen sie schließlich gerade am 1. August 1929 an, als die Kommunisten gegen den Krieg mit ihrem „Roten Tag" demonstrierten (es waren klägliche Demonstrationen). In Trelleborg und Malmö entstand eine reine Völkerwanderung zum Bahnhof. Blaugelbe Flaggen wehten. Die Bahnhöfe waren geschmückt, eine Fleischerei fuhr eine warme Suppe per Auto auf dem Bahnsteig für die 900, Leckereien wurden an die Kinder verteilt und die geschenkten Schuhe und Kleider probiert. Prinz Karl — immer mitten zwischen der Menschenmenge — hielt eine zu Herzen gehende Ansprache, der Schullehrer antwortete in einem Schwedisch, das nach Altschwedisch klang. Es waren Redewendungen, die man von den Vorvätern geerbt hatte. Die Rückwanderer waren von allem so ergriffen, dass einer von ihnen einen leichten Schlaganfall bekam."

     In Stockholm hat man Sammlungen fortgesetzt, und die Behörden arbeiten Hand in Hand, um die Heimkehrer auf der geliebten schwedischen Erde möglichst nahe beisammen anzusiedeln. Land ist von allen Seiten zur Verfügung gestellt worden. So hat die schwedische Hilfstätigkeit einen großen Tag gehabt.

     Soweit der erschütternde Bericht in den deutschen Blättern ... Ist es nicht bezeichnend, dass alteingesessene Kulturpioniere nach 150-jähriger schwerer und treuer Arbeit auf russischer Erde, von allem entblößt, fluchtartig das kommunistische Paradies verlassen? Und erinnert diese kleine Wanderung nicht in vielen Teilen an unsere große mennonitische Bewegung von Russland nach Kanada? Sind die Sowjetbehörden mit Blindheit geschlagen, dass sie nicht sehen, was der ganzen Kulturwelt offenbar ist?

„Der Bote", Mittwoch, den 11. September 1929

 

     Wenn es den Schweden gelungen ist, warum nicht auch uns Mennoniten, sagten sich die Leute und zogen mit erneuter Hoffnung nach Moskau.

     Ein weiteres Zeugnis der Verzweiflung der Mennoniten (Der Bote, 18.09). Ein Mennonit aus den USA erzählt:

     Unlängst erhielt ich einen Brief, dem ein anderer beigelegt war – adressiert an den „Präsidenten von Amerika".

      Sie fragen in dem Briefe an, ob man nicht Russland bewegen könne, Pässe herauszugeben, denn das sind ja gegenwärtig die Haupthindernisse. Sie sind dort der Meinung, dass Gott ihnen durch Präsidenten Hoover Hilfe senden könne.”

      Wer weiss? Vielleicht liesse sich etwas auf höchster Ebene bewegen!

 

       Moskau, den 4. Oktober 1929 (Bote, 6. November)

      Ich bin gegenwärtig mit meiner Familie in Moskau. Ein überwältigender Anblick! Wohin man schaut, alles Mennoniten! Der Bahnhof, die Straßen von Moskau, die Umgegend der Stadt, alles ist voll, überfüllt mit mennonitischen Auswanderern.

    Gegenwärtig sind bereits ungefähr 600 Mennonitenfamilien hier, und noch ist kein Ende zu sehen. Täglich kommen aus Sibirien, Orenburg, Krim usw. 10-20 Familien her. Darunter sind solche ohne Geld, in Holzpantoffeln. Der Winter vor der Tür, die Quartiere überfüllt, und die Lebensmittel sehr teuer. Alle wollen sie nach Canada. Was soll man da denken? Ich stehe betroffen da. Wenn dann wenigstens Aussicht auf eine Ausfahrt wäre, aber bis jetzt ist noch nichts zu hören. Wie das wohl enden wird! Gott erbarme sich unser!

     Davon haben wir wohl schon alle mal gehört. Es ist Herbst und manche sind in Holzpantoffeln gekommen, nicht weil sie es sich luftig machen wollten, sondern weil ihnen alles genommen wurde, sogar die Schuhe. Wovon wollen diese Leute leben? Und das teure Ausreisevisum bezahlen? Und die Miete in Moskau?

    Es waren wohl Augenblicke, wo viele einfach aufgehört haben logisch zu denken.

     Jemand hat die Adresse von Bekannten in Mexiko und schreibt ihnen folgenden Brief (Der Bote, 6.11.):

     Werte Geschwister in Mexiko!

     Es sind schon drei Wochen her, seit wir euren Brief erhielten, wollen versuchen, ihn zu beantworten. Wir haben zwar unsern Aufenthaltsort gewechselt, aber das tut ja nichts zur Sache. Wir warten hier bei Moskau auf Auslandspässe. Wir sind so weit, dass wir nicht mehr existenzfähig sind in wirtschaftlicher Hinsicht. Wir wissen auch nicht gut, wie es ausfallen wird, da wir nicht Geld genug haben, um die Pässe einzulösen. Wir warten jetzt, ob vielleicht unsere Geschwister in Amerika uns die nötigen 350 Dollar schicken werden.

     Wir mussten unsere Wirtschaft in dem Slawgoroder Kreise plötzlich verlassen, sonst wären wir nicht mehr bis Moskau gekommen. Hier bei Moskau liegen bei 3000 Mennoniten und warten auf die nötigen Papiere. Der Grund, warum sie hier liegen und wir dazu, ist ein und derselbe — uns wird die Möglichkeit zum Leben genommen. Die Produkte sind hier sehr teuer, und das Leben ist sehr schwer; aber wir hoffen mit Gottes Hilfe endlich die Grenze des russischen „Freiheitslands" überschreiten zu dürfen, und in ein Land zu kommen, wo wir arbeiten können.

     Wenn du, lieber Schwager, es dort machen könntest, dass meine Brüder es erführen, deren Adresse ich leider nicht besitze — Bruder D. M. Fröse's Adresse war Aberdeen, Sask., Box 167; Bruder A. M. Fröse's Adresse war 1917 South..., Chicago, Ill. U.S.A. — damit sie mir das so nötige Geld schickten auf die Adresse der Russkapa, Moskau, Kusnetskij Most, 20, das Geld nicht uns zu schicken. Da wir unsere Sachen mehr mit der Russkapa haben, erhalten wir das Geld am leichtesten. Also tut für uns, was ihr könnt; wir sind auf dem toten Punkt angelangt. Nochmals einen herzlichen Gruß von Euren Geschwistern.

     Heinrich u. Margaretha Fröse.

 

     Kommentar seitens der Schriftleitung des Boten:

Die Mennonitenwanderung in der Presse

      Die Not der Deutschen Russlands, darunter auch die Not der Mennoniten, ihre Anhäufung in Moskau u. die Weigerung der Räterregierung, ihnen Pässe zu geben, hat die Aufmerksamkeit der ganzen zivilisierten Welt erregt. In vielen Zeitungen Europas und Amerikas erscheinen Artikel, die die Lage der Deutschen in Moskau schildern und Stellung zu dieser Erscheinung nehmen. Wir bringen hier einen Bericht des Korrespondenten der „Kölnischen Zeitung", der ihn aus Moskau an die Zeitung Mitte Oktober geschrieben hat, und zwei Äußerungen zu der Einwanderung der Mennoniten in Saskatchewan. Die eine ist ein Interview mit dem Premierminister von Saskatchewan, Hon. J. T. M. Anderson, die andere — ein Leitartikel des Saskatooner „Star."

 

Deutsche flüchten aus Sibirien.

Opfer der bolschewistischen Bauernpolitik.

Moskau, Mitte Oktober.

     Die Dampflokomotive führt noch ebenso schnell ans Ziel, vorbei an freundlichen und geräumigen Ausflugsbahnhöfen, vorbei an leichten Siedlungen, beliebten „Datschenorten" der Moskauer, die auch heute noch gern im Sommer für drei, vier Monate mit Kind und Kegel in den Wald in luftige, aber äußerst primitive Holzhäuschen hinauszuziehen pflegen.

    Jetzt, wo die ersten Herbstnebel fallen, sind die Züge nur mehr halb gefüllt. Tannengrün und Birkengelb sind grau verschleiert, doch nicht verlassen wie in anderen Jahren sind die Ortschaften an dieser Strecke bis 50 Kilometer nördlich der Großstadt. Kein frohes Sommervolk zwar belebt mehr die Bahnsteige, schwitzende, abgearbeitete Gestalten, mit "Futterkörben" beschwert, erwartend. Ein Volk, zur Sesshaftigkeit geboren, ins Wandern verbannt, deutsche Bauernkolonisten, schon an die 5000, fanden hier kurzen, engen Unterschlupf.

     Die Sommerhausvermieter freuen sich der unerwarteten Gäste und richten ihre Preise danach. Ein Dorf nach dem anderen rechts und links von dem Bahnhof wird belegt. Mittags zwischen 11 und 4 Uhr — die Ankunftszeiten russischer Fahrpläne sind Annäherungswerte — rollt von Norden der Sibirienzug Nr. 61 vorbei: Dann drängen sich alle deutschen Bauern auf den Bahnsteig, schauen scharf nach den verstaubten kleinen Fenstern und eilen mit dem nächsten Vorortzug nach Moskau, wenn sie glauben, Verwandte, Nachbarn, Freunde in Hast erkannt zu haben, um sie in Empfang zu nehmen und in ihr Lagergebiet zu leiten. Täglich kommen aus Sibirien, aus dem Omsker, Pawlowdarer und hauptsächlich dem Slawgoroder Bezirk 10 bis 20 Familien hinzu. Täglich sind das rund 200 Seelen. Wenn dieser Bericht erscheint, werden 6000 vor Moskau stehen. In Stuben von drei zu drei Meter drängen sich 15, 20, 25 Menschen; als Zins müssen monatlich 20 bis 40 Rubel (in Mark das Doppelte) erlegt werden.”

 

Ein Wucherpreis.

     Die Stuben sind ohne Möbel bis auf eine jämmerliche Bretterbank, einen klapprigen Holztisch aus nackten Latten. Lange nicht alle besitzen einen Ofen. Frost und Schnee stehen vor der Tür. Schafspelz und Winterkappe aus Hasenfell schützen nicht lange; sie sind Bett und Sessel zugleich. Auf Bündeln und Körben ist für Alte und Kränkliche ein Lager errichtet. Die anderen, Erwachsene, Halbwüchsige und viele blonde, blauäugige Kinder, schlafen auf dem Fußboden. Wer „wohlhabend" ist, d.h. noch ein paar hundert Rubel sein Eigen nennt, richtet sich etwas bequemer ein, schaut mutiger in die nächsten Wochen. Viele aber haben schon heute nichts! Nichts als den Willen: Hinaus!

     Die große Mehrzahl sind fromme, starke, fleißige, ehrsame, tüchtige Mennoniten. Sie stammen aus Ost- und Westpreußen, sind um die Mitte des vorigen Jahrhunderts um ihres Glaubens willen nach Südrussland gezogen, haben dort mit gutem Erfolg „gebauert" und mussten zur Jahrhundertwende ihre überzähligen Söhne auf Neuland nach Sibirien schicken. Dort gab es 150 Morgen freien Acker, und in 20 Jahren schwerster Pionierarbeit schufen sie alle sich Haus und Hof. Auch aus der Krim sind viele gekommen. Im nördlichen Steppengebiet der Halbinsel siedeln 25.000. Der Nordkaukasus hat „Kundschafter" geschickt. Als Vorboten der deutschen Siedlungen im Orenburger Gouvernement sind auch eine Anzahl Familien da. Dies Geheimnis ist nicht zu erklären. Durch Breite- und Längengrade voneinander getrennt, vom Schicksal seit vielen Jahrzehnten von der deutschen Heimat entfernt, finden sie sich in diesen nichtssagenden Moskauer Sommerorten irgendwie zusammen: viele Deutsche,  Mennoniten begleitet von ihren Laienpredigern, fromme Katholiken und gottesfürchtige Lutherische.

      Allen ohne Unterschied des Glaubens ist starke Religiosität eigen.

     Kollektivwirtschaft heißt „neues Dasein“ ohne Gott, ohne Kirche, unter Auflösung der Familie, die Kinder in das Erziehungsheim, getrennt von den Eltern. Mit freundlich lächelnder Ruhe, mit einer unheimlichen Festigkeit, erklären diese Männer und Frauen: „So wollen wir nicht leben, so unsere Kinder nicht leben lassen.“ Und wenn sie sagen, dass sie dann lieber sterben wollten, klingt es nicht wie eine Redensart. Sie können wirklich nicht ohne ihren Gott sein. So spricht der Bauer und der Knecht, zögernd, leise, einfach, dass wir es schauen.

     Das zentralistische Schema der Sowjets lässt viel zu wenig Rücksichten auf ihre Eigenart. Zehntausende fürchten und fühlen die Obrigkeit, die unfähig, ungeschickt und bürokratisch in der Provinz herrscht, heute viel mehr als vor der Revolution. Sie haben keine einzige, für alle geltende nationale Zentralstelle in Moskau, keinen bemittelten Freund im Ausland.

    Für Sibirien war der äußere Anlass die schwere Missernte dieses Jahres und die unvernünftige, wenn nicht gewissenlose Verteilung der Getreidelieferungsauflage, die mengengemäß von oben herab, bis auf das Dorf und den einzelnen Bauer sich auf unerbittliches Maß fortsetzt, wo in der Mehrzahl der Fälle das tatsächliche Ernteergebnis doppelt und dreifach überstiegen wird. Wenn ein Dorf 12.000 Pud erntet und 34.000 Pud abliefern muss, sind die Bauern gezwungen, ihr Vieh und ihre Habe zu verkaufen, oder es wird ihnen zu Spottpreisen versteigert. So kann ein Dorf wie Blumenort, dessen 35 Wirte im vorigen Jahre je 1000 Pud abgeliefert haben, für immer vernichtet sein. Nur die Besitzer von vier Höfen sind zurückgeblieben. Alle anderen warten in Moskau auf die Ausreise. Zehn, zwanzig Männer bestätigen von eben soviel Dörfern, dass mehr als die Hälfte der Wirtschaften verlassen ist. Einigen, den ersten, die schon zwei oder drei Monate vor Moskau liegen, gelang es, ihr Letztes noch zu verkaufen, viele haben ihr Haus geschlossen und sind davongegangen. Man stelle sich vor, was dies für einen Bauer bedeutet.

     Es gibt für sie kein Zurück. Die Frage steht so, dass sie wählen konnten, im langen, einsamen Winter dieses Jahres ungekannt und ungehört Hungers zu sterben oder vor Moskau, vor den Toren der Hauptstadt, zu erwarten, was ihnen das Schicksal Besseres geben kann. Ein Schlechtes konnten sie nicht erwarten! Wohin jetzt? Sie hoffen auf Kanada, sie sprechen von Deutschland. Die Mennoniten wissen, dass sie jenseits des Ozeans Freunde haben. Arbeiten können sie; leben und die Kinder am Leben erhalten will jeder. Die letzten Jahre gestatten eine, wenn auch nur geringfügige Hoffnung auf Auswanderung aus Russland.

    Ende August gingen zuletzt auf legaler Basis noch 60 Mennonitenfamilien hinaus. Es scheint, dass die Räteregierung aus unerklärlichen Gründen nur ungern die Auswanderung gestattet. Die Pässe kosten 100 bis 200 Rubel, im Preis sozial gestuft, müssen erkämpft werden. Was aber könnte den Rätestaat hindern, ein fremdes Volk, das hier an ein neues Dasein nicht mehr zu glauben vermag, friedfertig ziehen zu lassen? Auch jenseits der Grenzen winkt diesen, wie allen Auswanderern, kein Paradies. Wer wird sich ihrer erbarmen? Wer will diese Menschen, die außer einem Wanderstab in kräftigen, arbeitsfrohen Armen nichts mitzubringen vermögen? Hier in Russland sind sie überflüssig.

„Der Bote", Mittwoch, den 13. November 1929

    Trotz Angst und Leid kann mancher seinen Humor nicht verkneifen. Der Bote veröffentlicht einige Witze, die sich die Mennoniten erzählen:

     In Moskau begegnen sich zwei Bekannte.

    „Wie geht es Dir heute, lieber Freund?" fragt der eine den andern.

    „Besser als morgen", antwortet der andere.

 

     Auf dem Zentralbahnhof in Moscou kam ein Zug an. Nun ist auf dem Bahnsteig sehr große Aufregung. Aus einem der Wagen stieg ein Reisender, der ganz nackt ist. Und man hört folgende Worte:

     „Was bedeutet dieses? So ganz ohne Kleider? Wo kommst du her?", so untersuchen die Beamten.

     „Was? Was ist los? Warum wundert Ihr Euch? Ich komme aus Minsk!" antwortete der befragte Nackte mit gewissem Stolz.

     „Aus Minsk? Gut, aus Minsk, aber warum so ganz nackt? Erkläre uns das!" so wieder die Beamten.

     „Sonderbar", ruft verwundert der Nackte aus, „habt Ihr denn noch nicht vernommen, was in Minsk geschehen ist? Wisst ihr denn das noch nicht?"

     „Was in Minsk geschehen? Gehört davon? Was ist es denn?" stürmten die Beamten auf ihn ein.

     „Nun", erklärte der Nackte, mit großer Begeisterung, „ich will es Euch sagen: Minsk hat den Fünf-Jahr-Plan in zwei Jahren durchgeführt!"

 

     Ein junger Jude badet im Schwarzen Meer. Mit ihm badet noch ein anderer, der plötzlich einen Krampfanfall bekommt und flehentlich um Hilfe ruft. Der junge Jude eilt hin und rettet den Hilfsbedürftigen.

     Als der Gerettete sich gesammelt hat, dankt er dem Retter mit überschwänglichen Worten und erklärt sich bereit, für ihn etwas zu tun. „Denn", so stellt er sich seinem Retter nun vor, „ich habe große Macht. Ich kann für Dich viel tun. Sage mir, was soll ich Dir geben? Oder was kann ich für Dich tun? Ich bin nämlich Stalin."

    „Du bist Stalin?" fragte der Jude ganz erschreckt. „Du sagst, dass Du Stalin bist?"

    „Ja", erwiderte der Gerettete, „ich bin tatsächlich Stalin. Was soll Dein Lohn sein?"

     Darauf der Retter: „Wenn Du tatsächlich Stalin bist, so sage es doch niemand, dass ich Dir das Leben gerettet habe."

 

      Es ist kein herziges Lachen mehr. Es ist das Lachen des Satirikers. Es ist Sarkasmus. Die Geschichten sind auch wohl kaum erfunden worden, um die Menschen aufzuheitern in ihrer erbärmlichen Lage, sondern nur um das Verhältnis der Leute zum Bolschewismus darzustellen. Und auch um den Bolschewismus zu charakterisieren. Wir sehen den Ernst in solchem Humor deutlich genug. 

"Der Bote", Mittwoch, den 25. März, 1931

 

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