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     Ich möchte es nicht idealisieren, das Leben auf dem Land. Es war keine so schöne Zeit. Die Zukunft war ungewiss, die Arbeit war schwer, man schuftete bis zum Umfallen.

 Ich sehne mich nicht danach und doch ...  nicht alles war schlecht.

    Es gibt schöne Erinnerungen. Zum Beispiel ...

Meine Bremer Stadtmusikanten

     Wenn das Leben auch mühsam und schwer war, das Geld unzureichend, so gab es heitere und lustige Augenblicke auf dem Land, auch solche, die mich schon als Kind andächtig werden ließen und tiefere Einblicke ins Leben vermittelten.

    Bekanntlich treten bei den Bremer Stadtmusikanten vier Helden auf. Ich habe sie persönlich gekannt und geliebt, das Pferd, der Hund, die Katze und der Hahn (Und was für ein Hahn!):

    1. Das Pferd:

     Pferde gab es viele. Immer wieder kaufte Vater eins, denn wir brauchten sie fürs Pflügen, für die Arbeit auf dem Land und um die Milch in die Stadt zu fahren.

    Ein Pferd aber hat in unserer Familie Geschichte gemacht. Sein Name wurde Legende: Sereno. Ich weiß nicht, wann es in unsere Familie kam, ich weiß nicht mal, warum es so beliebt wurde. War es so schön? Ich glaube nicht. Sereno hatte einen sehr aufrechten Gang, eine stolze Haltung. Aber warum fiel das in unserer Familie so sehr auf? Am Samstag mussten andere Pferde Schwerstarbeit leisten, aber „Sereno bleibt für Sonntag, um zur Kirche zu fahren.“ Andere Gottesdienstbesucher konnten sich schon einen Wagen leisten, mit dem sie am Sonntag zur Kirche fuhren. Wir hatten Sereno. Mit ihm schämten wir uns nicht.

    Warum war bei uns sein imponierendes Schreiten so beliebt? Wenn meine Großmutter, Oma Warkentin, am Samstag eine Tochter besuchen wollte, dann musste es Sereno sein. Ich weiß noch, wie es mal eine Missstimmung gab, denn man hatte ihr ein anderes Pferd angespannt. Als sie aus dem Haus kam und das sah – sie war sonst eine sehr fügsame und absolut milde Frau – da sagte sie kurz: „Mit dem Pferd fahr ich nicht. Ich will Sereno haben“, und begab sich zurück ins Haus. Auch mein Vater, still und sanft wie Isaak aus der Bibel, spannte am liebsten Sereno an.

    War es vielleicht deswegen, weil Sereno im Gegensatz zum Wesen unseres Vaters und der Großmutter temperamentvoll war, kräftig und entschieden?

 

    2. Der Hund:

    Wer auf dem Land wohnt, braucht Hunde. Sie leisten ihm Gesellschaft, sie wachen über Haus und Hof, melden wenn Fremde kommen. Bei uns halfen sie auch Mäuse und Ratten fangen oder verjagen.

    Am liebsten lagen die Hunde auf dem Teppich vor der Haustür. Ich höre noch, wie mein sonst schweigsamer Vater schimpfte, wenn er um halb vier morgens – es gab noch kein elektrisches Licht – kaum aus dem Haus über den dort vor der Tür liegenden Hund stolperte.

    Alle Hunde hatten einen Namen, ich habe sie alle vergessen, außer einem: Tiras. Frag mich nicht nach der Rasse! Das waren alles Mischlinge. Dieser war klein, dunkel, mit ein paar weißen Flecken. Warum ist er in Erinnerung geblieben? Wenn Tiere in den Himmel kommen, so werde ich mit ihm ein sehr herzliches Wiedersehen erleben.

    Ich war auf jeden Fall schon groß genug, um den noch jungen Tiras aufwachsen sehen, seine Entwicklung beobachten. Ich bin mit ihm älter geworden. Er machte mit, wenn ich einen Streich spielen wollte: „Tiras, hol den Stock!“, den ich geworfen hatte. „Tiras, greif die Katze an!“ Und das Kätzchen machte einen Buckel, um sich zu verteidigen.

    Dann hatte ich eines Tages eine Idee, vielleicht war es auch die Idee meines Bruders, es liegt zu weit zurück: „Tiras, spring aufs Pferd!“ Es war gerade vor die Karre gespannt, wir würden mit dem Tocador aufs Feld fahren. Der alte Gaul ließ sich alles gefallen und im gemütlichen Trab saß Tiras wie ein Reiter hoch zu Ross. Und wir hatten unseren Spaß: ein Hund reitet das Pferd.

    Jeden Abend wurden die Kühe gezählt. Hin und wieder war eine Kuh nicht nach Hause gekommen, weil sie in einen Graben gefallen war und nicht mehr raus konnte. Die Erwachsenen verrichteten die Melkarbeit, nur ich, elfjähriger Bub, war zum Übrigen. Da befahl mir Vater in die stockfinstere Dunkelheit zu ziehen, in die schon neblige Niederung, wo die Kühe tagsüber gegrast hatten, einen Kilometer entfernt, um in den Gräben nachzusehen, wo die Kuh stecken geblieben war.

    Am liebsten hätte ich mich geweigert es zu machen, denn es war dunkel und ich hatte Angst. Noch mehr fürchtete ich mich von den anderen als Angsthase gehänselt zu werden. Also zog ich los. „Lieber Tiras, ich hätte es ohne dich nicht geschafft, mein treuer Geselle in der Dunkelheit. Denn du hattest keine Angst.

    So wurden wir unzertrennliche Genossen. Auf Schritt und Tritt war er immer dabei. „Udo, das Pferd muss neu besohlt werden.“ Tiras fuhr mit und vertrieb mir die Langeweile auf der weiten Fahrt bis zum Schmied in Uberaba, wo es Hufeisen gab.

    Jahre später, ich sehe es noch wie heute, lag Tiras an einem Wintermorgen an der Hausmauer gelehnt, ziemlich bewegungslos. Jemand bemerkte: „Tiras ist alt geworden, er liegt im Sterben.“ Tod, das hatte ich noch nicht erlebt. Ich meine, einen so persönlichen Tod, der Tod eines Freundes.

    Nach einigen Stunden atmete er nicht mehr. „Udo, den musst du begraben.“ Bewegt griff ich zu einem Spaten und den Fuß meines nun erkalteten und steifen Freundes.

    Manche Begräbnisse vergisst man nicht.

 

 

    3. Die Katze

    Eigentlich war es ein Kater, ein Angorakater. Wozu brauchte man Katzen? Bei uns fingen sie Mäuse. Und sonst? Sie gehörten einfach zum Bild. Und sie vermehrten sich ohne Ende. Bald war wieder ein Wurf Kätzchen da. Wohin damit?

    Ich erinnere mich nicht mehr, woher dieser Kater kam. Schon als Kätzchen gewann er große Aufmerksamkeit. Sein glänzend gestreiftes Fell, die Haare besonders lang. Wenn wir um vier Uhr morgens die Kühe melkten, eine langwierige und langweilige Angelegenheit – wir hatten keine Melkmaschinen – da nahm ich das Kätzchen auf den Schoß, während ich

melkte. Sein Schnurren tat mir gut. Manchmal auch drehte ich die Zitze der Kuh und spritzte Milch direkt in den Mund des Kätzchens, das anschließend eine langwierige Säuberung-Prozedur durchführen musste.

    Was diesen Kater aber besonders machte: Er wurde erwachsen und mehr noch als Katzen es schon sowieso tun, wurde er sehr eigenwillig und unzugänglich. Immer mehr streunte er herum und ließ niemanden an sich heran. Er brauchte uns immer weniger. Wovon lebte er? Es gab Unmengen Spatzen. Manchmal sah man, wie er wieder einen erlegt hatte.

    Eines späten Abends schaute Vater noch mal auf den Hof. Die Milchkannen standen in freier Luft auf einem erhobenen Gestell, wo es am kühlsten war. Der Anblick erschrak meinen Vater. Bei einer Milchkanne steckte ein wunderbarer Schwanz heraus. Nachdem die Milch schon ein paar Stunden gestanden hatte, ergötzte sich dieser Kater an der Sahne Schicht, die sich gebildet hatte. Vater schlich sich heran, ergriff ihn am Schwanz und schleuderte ihn demütigend weg.

    Das war wohl eines der letzten Male, dass er gesehen wurde. Nach Monaten erschien er plötzlich noch einmal, schaute sehr misstrauisch und verwildert um sich, sprang auf meinen Schoß, als ich hinter einer Kuh saß. Ich wagte es nicht, ihn zu streicheln, obwohl sein Fell faszinierend glänzte. Ich spritzte etwas Milch in seinen Mund, ihm wurde unwohl bei so großer Menschennähe, sprang wieder ab und verschwand in die Nacht. Auf immer.

   Warum habe ich ihn nie vergessen? Weil er mit seinem langen, gestreiften Haar so außerordentlich schön war? Ich glaube, es war seine Eigenwilligkeit, das Wilde in ihm, die absolute Freiheit, die er sich nahm, ohne Rücksicht.

     Dieses geschah in meinen Teenagerjahren, wo auch in mir die Hormone mich zur Männlichkeit trieben und wohl diesen Kater beneiden ließen.

 

    4. Der Hahn

    Von meinen vier Bremer Stadtmusikanten ist er wohl der auffälligste Geselle. Er war ein außergewöhnlicher Gefährte. Ich weiß nicht mal, ob es mir gelingt, ihn glaubwürdig zu beschreiben.

    Wie viele hundert Hühner hat man auf dem Land als Küken gesehen und später aus dem Fleischtopf gekostet? Dieser Hahn aber bekam einen Namen. Ich nannte ihn Capitão.

    Die Küken liefen durch den Stahl auf der Suche nach Körnern. Wenn gerade eine Kuh noch da war, pflückte ich vom Fell eine Karapate (wenn ich das Wort Zecke verwende, versteht ihr mich nicht), und warf es den Küken zu. Das eine merkte es sich und wagte es, sich von der Schar zu lösen und etwas länger in der Nähe dieser nahrhaften Speisequelle zu weilen. Ich belohnte seinen Wagemut mit Extraportionen.

    Das wiederholte sich in den kommenden Tagen und Wochen. Plötzlich kam dieses Küken alleine hereinspaziert und piepste laut, um seine besondere Speise zu fordern. Das hatte ich noch nicht gesehen und belohnte es gern.

    Bald merkte ich, wie es sich von den anderen absetzte, es wuchs schneller als die anderen und nun konnte man es erkennen, es wird ein Hahn. Und weil dieser Hahn mit einer auffallenden Eigenständigkeit auftrat und seine persönliche Portion an Karapaten einforderte, bekam es einen entsprechenden Namen, Capitão.

    Capitão verbrachte immer weniger Zeit mit seinen Artgenossen und weilte lieber in unserer Nähe. Der Vorteil war ihm klar. Und wenn nun einer seines Gleichen auf dem Hof herumspazieren wollte, so lief er ihm nach und vertrieb ihn. Die Nähe der Menschen erklärte er als sein Hoheits-gebiet, da herrschte er. Ich fand es lustig und förderte das Vorgehen dieses selbstbewussten Hahnes.

    Indem er größer und stärker wurde, fing er an auch Hunde und Katzen vom Hof zu vertreiben. Er duldete immer weniger irgendeine Konkurrenz. Wenn Menschen da waren, dann krähte er und „redete“ bedeutungsvoll in seiner Sprache. So etwas hatten wir noch nicht gesehen und es war eine schöne Ablenkung von der eintönigen Müh und Arbeit.

   Plötzlich konnte er auch keine Kinder mehr leiden. Wenn Neffen und Nichten zu Besuch kamen, fragten sie vorsichtig, ob Capitão eingesperrt wäre, sonst mussten sie „schön lieb“ im Hause bleiben und konnten nicht wie sonst auf dem Bauernhof rumstreunen.

   Dann kam der berühmteste Streich dieses selbstbewussten Hahnes. Eines Tages nahm er es mit meiner Mutter auf. Als sie den Hof überqueren wollte, griff er sie so wuchtig an, dass sie schnell ins Haus zurückflüchtete. Ab nun hörte ich sie fragen:

    „Wo ist der Besen?

    „Was ist los, Mutti? Wozu brauchst du einen Besen? Willst du darauf fliegen?

    „Du weißt warum. Dein dämlicher Hahn lässt mich nicht mehr über meinen eigenen Hof gehen!

    „Ach, Mutti, es ist doch nur ein Hahn!“ versuchte ich sie zu beruhigen.

    Es gab damals noch keine Filmapparate im Hause, aber es war die lustigste Sache – für mich als Jugendlicher wenigstens – zu sehen, wie meine Mutter ängstlich um sich schauen musste, wenn sie den Hof überqueren wollte. Dann plötzlich kam Capitão angeflogen und versuchte mit lautem Getöse, sie mit seinen Krallen zu verjagen. Sie musste sehr entschieden mit dem Besen um sich schlagen, um bis zum Stall zu kommen.

    „Entweder beschneidest du ihm die Flügel und sperrst ihn in den Hühnerstall oder ich schlachte ihn.

    Das war das Ende seiner Herrschaft und ich erinnere mich noch daran, wie man ein Tier, das einen Namen bekommen hat, das Mitglied der Hausgemeinschaft geworden ist, nicht genüsslich verspeisen kann. Sein Fleisch wollte mir nicht schmecken.

    Meine Bremer Stadtmusikanten haben zwar nicht gesungen, trotzdem haben sie mir manche Lehre mitgeteilt: Sereno mit seinem imponierenden Auftritt; Tiras durch seine Treue und liebliche Geselligkeit; der Angorakater, das Wilde und die geheimnisvollen Regungen meines Herzens; und Capitão: selbst ein Hahn kann zur Persönlichkeit heranreifen durch den Kontakt mit Höher-stehenden.

    Klar, das ist ein heimtückischer Weg, man kann sich vergreifen. Damit sind wir doch alle vertraut, nicht wahr?

Udo Siemens

Vati Sereno 1_edited.jpg

Meine Schwester Renate Wieler hatte zum Glück noch ein Exemplar von dem Foto, auf dem Vater mit Sereno zu sehen ist, wohl Ende der fünfziger Jahre in der Stadtmitte Curitibas entstanden.

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