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Menonitas no Brasil

Mennoniten in Brasilien

 

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   Tagebuch aus dem Reich des Totentanzes

Dietrich Neufeld, 1921

Einleitung des Buches

    Es ist notwendig, daß die Welt erfahre, wie es in jenem, gleichsam verzauberten Labyrinth des tollen Totentanzes aussieht.

     Der Verfasser nachstehender Schrift schildert hier seine Erlebnisse in den schweren Monaten (September 1919 bis Anfang 1920), in denen die Mennonitenkolonie Chortitza ihre historische Tragödie erlebte.

    Die dreimonatliche Machno-Herrschaft in dem Gebiete Chortitza hat den Mennoniten hier ein unverschuldet tragisches Schicksal bereitet, in einer Weise, wie es für einen Westeuropäer unausdenkbar ist.

Der Bericht des Autors: 

    Ich weiß, daß dies die älteste deutsche Niederlassung in Süd-Rußland ist. Es war eine harte Zeit, als sich vor 130 Jahren deutsche Siedler nach langer müheseliger Reise hier in der freien wilden Steppe niederließen und nach und nach um diesen Platz herum 20 Hofdörfer begründeten. Die eher armseligen Hütten sind schon längst verschwunden. Ich sehe hier im Tal entlang neben stolzen Bauernhöfen fünf große Getreidemühlen, Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen, Ziegeleien mit hohen Schloten, Banken und Handlungen, Schulen und Krankenhäuser weiß ich an diesem Ort. Durch Krieg und Revolution ist alles verkommen und erneuerungsbedürftig, aber Ackerbau, Handel und Gewerbe, Schule und Wohlfahrtspflege kann von neuem wieder aufblühen, wenn die unruhige Zeit vorüber ist.

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 21. September 1919.

      Sie sind da!

      Wer sie sind und für welche politische Lösung sie kämpfen — das weiß niemand von uns. Alles was wir sehen, ist brutaler Wahnsinn, ist Raub, Mord — einen Deutschen, namens Dick, sah ich schon erschlagen liegen jenseits des Baches — ist Schrecken in steigender Potenz ... Ich höre sie wieder vor der Tür.

     Abends. Zerknüllt hole ich meine Notizblätter hervor aus dem Versteck. Wie sieht es in meinem Zimmer aus! Die Schranktüren stehen offen, die Schubladen des Schreibtisches liegen auf dem Fußboden. Der Inhalt liegt zerstreut umher, soweit er nicht mitgenommen wurde. So sieht es nun im ganzen Hause aus! Wir haben kaum noch Lust, die gehörte Ordnung wieder herzustellen.

     Wir sind alle sehr aufgeregt. Mein Freund, in dessen Haus ich wohne, zwingt sich zur Ruhe. Auch seine Frau, ein tapferes Weib, beherrscht sich, wiewohl sie den Kleiderraub und den Verlust der Wäsche ihres Mannes sehr hart empfindet; sie weiß, daß dies alles nicht ersetzt werden kann.

     Aber, es steht noch Unersetzlicheres auf dem Spiel. Wir haben genugsam erkannt, wie lose die Kugel in den Mordwaffen dieser Eindringlinge sitzt. Wir fühlen und wissen, daß diesen Menschen unser Leben nicht wertvoller erscheint als einem Sonntagsjäger das Leben eines Hasen. Es gibt keine Schonzeit für uns, wie sie in einem geordneten Staate für Menschen in den Pausen von einem Kriege bis zum andern doch besteht. Wen kümmert es, wenn wir unser Leben einbüßen! Die älteste Tochter meines Freundes, ein phantasiebegabtes deutsches Mädchen, empfindet anscheinend in aller Gefahr etwas von Abenteuerlust, die ihren 14 Jahren zugute gehalten werden muß. Die kleine Achtjährige ist infolge vieler Krankheiten ernsterer Natur. Oft blickt sie mit tiefen blauen Augen den Eltern ins Gesicht: sie studiert ihre Mienen und weiß offenbar nicht recht, ob sie wirklich ganz geborgen ist bei Vater und Mutter. Feinsinnig spürt sie das Zittern der seelischen Atmosphäre im Hause, nervös spielen die Fingerspitzen mit den Enden ihrer langen, dicken blonden Zöpfe. Großmutter begreift die ganze Tragweite unserer Situation noch nicht. Ungehalten ist sie über den frechen Besuch. Ein Muster der ordnungliebenden deutschen Hausfrau muß sie dulden, daß ihre Kommode, wo jedes Schächtelchen seit Jahr und Tag seinen bestimmten Platz hat, durchsucht wird. Sie muß zusehen, wie die Eindringlinge, vorgeblich nach Waffen suchend, in den Schubladen kramen. ,,Halt“ ruft sie plötzlich dazwischen. „Ich will Ihnen selber alle Schachteln öffnen und jedes Ding zeigen.“ Sie sieht, daß alles durcheinander gebracht wird. Sie ist alt. Schon müde blicken die Augen. Sie erkennt die wilden Gesichter nicht. Sie hätte jenen Ruf sonst nicht gewagt. Sie versteht zudem kein Wort russisch und begreift nicht, wie drohend sie fluchen und schimpfen. Sie greift steuernd ein bei dem Wühlen unberufener Hände.

      O, wie dieser Widerspruch die verwegenen Räuber reizt! Einer faßt seine Knotenpeitsche und schickt sich an, die Alte zu schlagen. Da bitten Sohn und Tochter für die Mutter und reden dann auf diese ein, das Unabwendbare geschehen zu lassen. Da sagt sie kurz in ihrem Plattdeutsch: he wöat nich schlone. (Er wird nicht zuschlagen). Sie hat manchen Tand im Laufe des Jahres als Andenken für sich zurückgelegt. Sie will nicht leiden, daß ihrem Alter keine Achtung gezollt wird, daß vieles in die Taschen der Räuber wandert, vieles auf den Fußboden geschleudert und zerschmettert wird.

   Sie gebietet Einhalt. Das ist zu viel!

   „Tritt zurück, alte Hexe!“ ruft ein Bandit und schwingt das Gewehr von der Schulter. Er richtet den Lauf auf die Großmutter. Da tritt mein Freund vor und lenkt auf diese Weise den Mordbuben auf sich. Er bittet für seine Schwiegermutter. Fluchend stößt jener die Frau mit dem Gewehrlauf nieder; sie stürzt zurück und sinkt wie geistesabwesend hintenüber.

    Wie bei heiterem Wetter eine Heuschreckenwolke auf einen Getreideacker verheerend niederfällt und in wenigen Stunden die Ernte mit Halm und Aehre vernichtet, — so sind wir mitten im vermeintlichen Frieden überfallen worden.

    Ich kann mir kaum Rechenschaft darüber geben, was heute war. Das Erlebnis ist so groß, daß es mir vorkommt, als sei der Tag endlos. So weit zurück liegt alles, was früh morgens geschah.

    War es denn heute, als mein Freund mit mir das Phänomen der Steppe, den Sonnenaufgang, begeistert schaute? Und war es heute, als wir im Seminar in außergewöhnlich gehobener Stimmung waren und ich Gedichte vortrug? — Ja, es war heute!

    Am Nachmittag ging ich dann hinaus, um die hundertjährige Eiche, einen außergewöhnlich hohen Baum, zu besehen. Dort war es, als wir plötzlich einen Kanonenschuß hörten. Beim zweiten horchten wir erregt auf, und begaben uns beim dritten auf den Heimweg. Es ahnte uns nichts Gutes. An der ersten Wegkreuzung stoßen wir auf Reiter und Droschken mit Dreigespann, die alle im wilden Tempo unserem Orte zustreben. Eine endlos lange Staubwolke zog hinter ihnen her, daß wir das Ende des Zuges nicht absehen können.

    Bald lösen sich zwei Reiter von der ersten Gruppe und sprengen uns entgegen. Wir verharren auf dem Fleck reglos, schreckgebannt. Bald tänzeln zwei Pferde vor uns. Roh werden sie geführt. Die Männer auf ihrem Rücken fassen die Zügel kurz, daß die armen Tiere das Maul auftun und ihre geschwollene Zunge zeigen. Jeder Reiter hat trotz der warmen Witterung eine große langhaarige Pelzmütze auf, die keck nach einer Seite neigt, während auf der anderen lange Locken drohend auf und niederschweben. Das macht das staubbedeckte Gesicht gefährlich verwegen. Aus den Augen bricht wilde Zügellosigkeit. Die grellen Farben der Kleider verschärfen die Wirkung der kecken Haltung und den wilden Ausdruck des Gesichts. Waffen haben sie: Ueber der Schulter hängt das Gewehr, an der linken Seite baumelt der Säbel, die Pistolen stecken im Gurt. Während die linke die Zügel faßt, schwingt die Rechte eine dreistriemige Knotenknute. Sie saust während unseres Verhörs nieder auf die Rippen und Flanken der Tiere, daß sie keuchend stöhnen. Das gibt den Reitern Anlaß zu fluchen, wie man es nur in Rußland hören kann.

    Mit vieler Mühe überzeugen wir sie davon, daß wir Lehrer sind. Lehrer zu sein, ist offenbar nach ihren Begriffen nicht das größte Uebel. Der Bauernstand der deutschen Kolonisten ist jedenfalls strafbarer als der Lehrerstand.

    Mit einer Drohung sprengen sie davon. Wir suchen versteckte Wege, die uns durch Gärten und Zäune endlich nach Hause bringen.

    Der ganze Ort ist in Aufregung. Es liegt eine Angst und ein unheimlich drohendes Verhängnis in der Luft. Ein Nachbar läuft zum andern, und jeder glaubt am meisten gelitten zu haben. — Wir sind tatsächlich mehr verschont geblieben, als die Häuser, die an der Hauptstraße stehen. Aber wie lange? Der Ort füllt sich immer mehr mit diesen Horden. Die Höfe sind voll Wagen und Reitern. Sie besitzen, was ihnen gefällt. Auch unser Leben gehört ihnen. Ob sie lange bleiben? Man sieht von unserem Hause aus einen endlos langen Zug, wie er sich aus dem Ort hinausbewegt nach dem Dorf, das unmittelbar am Djnepr liegt. Sie wollen wohl dort über die große Djneprbrücke. Ich höre Stimmen im Hausflur. Mein Freund spricht. Eindringlinge fluchen. Er weicht ihrer rohen Gewalt. Brutale Gesellen, keiner Vernunft zugänglich! Sie kommen! Weg mit dem Heft!

     

 Folge II

Chortitza-Rosenthal, am 23. September 1919.

       So! Ich bin wieder zurückgekehrt in unser Haus. Es ist doch ruhiger hier oben, als in den Straßen da unten, wo der Strom durchziehender Bewaffneter nicht aufhört.

        Ich lebe. Kaum ist es zu glauben, daß man sich retten konnte. Ich schreibe im Finstern. Licht würde uns hier oben hinter den Birnbäumen verraten. Es tritt immerhin von einem Auftritt zum andern oft eine Pause von einer halben Stunde ein. Ich muß mir’s vom Herzen herunterschreiben, selbst  wenn ich es später auch nicht alles entziffern könnte. Mir ist beim Schreiben, als spräche ich mit jemand, der dies alles nicht erlebte, dessen Seele also frei ist, um mir einen Teil des allzu Schweren abzunehmen. Vielleicht stürmt die Fülle der Erlebnisse stärker auf mich ein als auf andere; ich muß mich losschreiben von der Last.

      Wo war ich? Habe ich geträumt, was mir so schwer im Gemüte liegt? Ich entsinne mich nun ganz genau des Vorgangs. Die Töchter meines Kollegen kamen gestern zu mir und baten mich, in ihr Haus zu kommen. Der Vater war geflüchtet, weil man ihm am ersten nachstellen würde. Sie wüßten nicht, ob er entkommen oder vielleicht auch in ihre Hände gefallen war.

     Es gab keine Ueberlegung für mich. Es war ein weiter Weg dorthin. Ich fand die Frau mit ihren drei erwachsenen Töchtern und den 15jährigen Sohn in einem trostlosen Zustande. Sie waren besonders schwer getroffen. Ihr Haus war größer und schöner als die meisten Nachbarhäuser, ein zweistöckiges Einfamilienhaus im westeuropäischen Vorstadtstil. Es hatte die meisten Banditen, die nun zu Tausenden unseren Ort erfüllten, herbeigelockt. Sie liefen hier in Scharen ein und aus. — Ich gehe durch die Zimmer, die ich noch vor wenigen Tagen so gastlich und wohnlich sah. Die Kleider- und Wäscheschränke sind leer, die Schubladen der Kommoden aufgezogen. Auf dem Fußboden liegen die ausgeschütteten Bettfedern, die beim Windzug auffliegen, sich auf Haar und Kleider setzen. Wüst ist alles. Einmal scheint es, als ob die letzten das Haus verlassen. Wir treten zusammen, und ungewollt fassen sich unsere Hände. Das stärkt unseren Mut.

     Da erschallen barsche Rufe vom Hofe her. ,,Wo ist der Hauswirt!“ Ich trete vor. Es sind Reiter, die Einquartierung begehren. Der Hof füllt sich mit Reitern und Wagen. Es ist ein Schreien und Fluchen, ein Brechen an Zäunen, ein Rasseln mit Waffen, daß unsere Fassung ins Wanken kommt, die Nerven zittern. Die Familie umdrängt mich ratlos. Die Töchter werfen sich mir um den Hals. „Sie kommen“!

     „Helfen Sie uns“! „Es ist aus mit uns“! Von mir erwarten sie Hilfe, drum vermochte ich in diesem Augenblicke mehr, als ich je geglaubt hätte. Der Gedanke, daß ich helfen, daß ich einen Ausweg finden muß, reißt mich heraus aus dem Gefühl der Hilflosigkeit. Ich glaube selbst an mich. Ich kann meine Erregung zügeln, kann ihnen Trost zusprechen, ohne wirklich zu wissen, wie Hilfe gebracht werden kann, denn ein Widerstand muß hier ebenso nutzlos lein, wie Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlen.

     Ich möchte mir gern den seelischen Vorgang erklären. Es war wohl das dumpfe Gefühl: dies ist der Höhepunkt unserer Leiden, weiter geht es nicht: mehr können wir seelisch nicht ertragen; jetzt muß es abnehmen; eine Entspannung muß eintreten —- oder es gibt einen Ruck, und wir sind über die Grenze der Möglichkeit einer noch höheren Anspannung hinaus.

     Aber ich habe in der Folge einsehen müssen, daß der Mensch mehr zu ertragen vermag, als er sich  im normalen Zustand vorstellen kann. Bald strömen polternd und fluchend neue Banditen ins Haus. „Aha“, triumphieren sie, „hier sind wir im Hause eines Reichen. Wo ist der Hausherr?“ Mit erzwungener Ruhe erkläre ich: Hier wohnt ein Lehrer, ein Mann im Dienste des Volkes. Er ist in Schulangelegenheiten nach der Stadt gefahren und hat bisher nicht zurückkehren können. Ich bin Mitbewohner dieses Hauses“. Sie glauben es nicht, zerstreuen sich  aber beutegierig in alle Zimmer.

     „Da ein Klavier! Wer spielt darauf? Hierher, ihr Dirnen, spielt uns vor!“ Die zweite Tochter des Hauses, ein tapferes Mädchen, scheint niemand zu fürchten. Wahrlich, sie sieht heldisch aus, als sie, ihren Blicken trotzend, ans Klavier tritt. Sie öffnet das erste zur Hand gelegene Notenbuch und spielt aus einer Bach-Arie, während staubbedeckt die wilden Gesellen rund herum Platz nehmen. Zurückgelehnt, die Beine vorgestreckt, hören sie mit verschränkten Armen einen Augenblick zu; dann aber springen sie auf mit dem sogenannten dreistöckigen Fluch von der genotzüchtigten Mutter Gottes. Einen frohen Tanz begehren sie, eine Polka Mazurka. Das Mädchen behauptet, keine Tanzmelodie spielen zu können. Sie tritt zurück vom Klavier in furchtbarer Erregung, denn die Töne der Musik greifen an die tiefsten Tiefen der Seele und drohen die seelische Spannung, mittels deren wir uns Beherrschung aufzwingen, zu lösen, was einer Verzweiflung gleichkommen muß.

     Alle Zimmer sind angefüllt von Räubern. Die Gier nach Kostbarkeiten beherrscht sie restlos, und jeder will dem andern zuvorkommen. — Es wird Abend, und Licht begehren sie. Man sieht sie in Gruppen am Büffet, wo sie Gläser herauslangen und am Fußboden zerschmettern. Wenn ein Gegenstand silbern aussieht, verschwindet er in der Tasche oder dem Vorhemd. Andere suchen den Bücherschrank ab. Die Bücher werfen sie von den Brettern oder vergnügen sich damit, sie aus den Einbänden zu schleudern. Einer hämmert an der Nähmaschine; andere schneiden das Tuch von der Sofapolsterung. Immer wieder werden Schränke, Kommoden und Betten durchsucht.

     In der Speisekammer und im Keller ist ein wüster Tumult. Sie fordern dort in dieser Jahreszeit den ganzen Wintervorrat an eingemachtem Obst. Sie kosten von allen Speisen und werfen, was sie nicht aufessen, zum Fenster hinaus.

    Wir stehen dabei und denken: dieses oder jenes, was wir brauchen, bleibt vielleicht unbemerkt. Man hat bei der stets unsicheren Zeit einige Verstecke, aber kein Raum, kein Eckchen bleibt verborgen. Schließlich geht uns das in diesem Augenblick nicht so hart an. Das Leben steht auf dem Spiel. Dann wird der Besitz wertlos. Wir wissen auch, daß durch Einspruch gar nichts zu retten ist.

    Die hereinbrechende Dunkelheit verstärkt das drückende Gefühl. Es ist schrecklich und unheimlich zugleich. Wir treten hinaus vor die Haustür und hören Schreien, Rufen, Schüsse, Wehklagen. Selbst die Tiere werden unruhig. Kühe brüllen, Schweine grunzen. Wäre erst die schwarze Nacht vorbei!

    Da kommen zwei Reiter im gestreckten Galopp auf den Hof. Wüste Gesellen. Einer steigt ab und tritt auf mich zu in einer Weise, als begehre er meinen Kopf. Er durchsucht meine Taschen, behält Messer, Uhr, Zündhölzchen und forscht lange, wer ich sei. Er sieht, daß ich der Vater dieser Familie nicht sein kann und verlangt den Hausherrn zu sprechen. Er ist nicht hier. Aus den Augen des Inquisitors bricht wilde Wut. Er vermutet Vater und Söhne in den Reihen der Kadetten — seiner Gegner. Ich soll dafür büßen. Zuvor soll ich mit Namen nennen, wer als Freiwilliger bei General Denikin dient. Tatsächlich weiß ich keinen einzigen bei Namen, denn wenige Tage erst bin ich in diesem Orte. Man hält meine Aussagen für Ausflüchte und meinen Ausweis für gefälscht. Man droht mir den Tod an mit der zynischen Redensart, mich in das Generalquartier Duchonins, eines im Kriege verhaßten und während der Revolution umgebrachten Generals, zu befördern. Diese Drohung wiederholen sie oft, damit ich die deutschen Freiwilligen ausgäbe. Ich kann niemand nennen; schließlich sagen sie mir, daß sie mich zu Väterchen Machno bringen werden, der nicht lange zu fackeln pflege.

    Jetzt begreifen wir, wer diese unzähligen Horden anführt. Machno hatte schon als Verbündeter der Bolschewiki in diesem Ort fünf Wochen lang sein Quartier gehabt. Es war im Sommer gewesen, als hier die Front gegen Denikin gehalten wurde. Schon damals hatten sich  seine Leute durch Roheit ausgezeichnet. Bald nachher wurde er abtrünnig und schlug sich dann sowohl mit den Freiwilligen als auch mit Bolschewiki. Aber alle losen Elemente der Ukraina halten zu ihm. Machno! Wer kennt nicht diesen Namen, der jedenfalls noch durch Geschlechter hindurch als Schreckgestalt in der Erinnerung fortleben wird. Der Kriegs- und Revolutionszustand hat zu Tausenden Menschen auf die Bahn des Raubes und des Mordes gedrängt. Sie alle halten zu ihm wie zu ihrem Räuherhauptmann. Machno will alle Kapitalisten mit dem Schwerte ausrotten. Ihm sind die Bolschewiki, die wohl auch den Kapitalismus, aber das menschliche Leben schonen wollen — jedenfalls im Prinzip — zu zahm. Seine Straße ist mit Blut bespritzt.

    Zu diesem Manne soll ich gebracht werden. Nach einiger Zeit kommen sieben Männer ins Haus um uns mit Drohungen zu quälen, denn zu rauben gibt es nun kaum etwas mehr. Ich begreife sehr bald, daß diese Wüstlinge mich aus dem Hause entfernen wollen, um die Frau und ihre drei erwachsenen Töchter allein im Hause zu haben. Nachdem sie mich lange mit Pistolen bedroht haben, geben sie mir Gelegenheit zu entfliehen. Allein wie hätte ich fliehen können, wenn die Ehre dieser Frauen auf dem Spiele stand, die sich ausdrücklich unter meinen Schutz gestellt haben! Ich beschloß bei mir, nicht zu weichen, und wenn es das Leben kosten sollte. Ich zwinge mich zur Ruhe, und verlasse mich auf das Mittel, das mich vor einem Jahre rettete, als ich zum Erschießen verurteilt war. Ich habe damals erfahren, daß ich mit höchstem Geistesaufwand die Mordwaffen unschädlich machen konnte. Ich gehe also mit der Waffe der geistigen Konzentration bewußt zum Angriff vor. Ich zwinge ihnen suggestiv den Gedanken auf: Ihr tötet mich nicht! Den Gedanken, daß es für sie unmöglich sei, mich zu töten, steigere ich bis zur höchsten Potenz. Ich sehe, wie die Mordlust nachläßt und werde um so standhafter. Nun merke ich ganz deutlich, wie sie zahmer werden, wie sich menschliche Gefühle in ihnen zu regen beginnen. Und da sagt schon einer, auf sein Gewehr sich lehnend, leise hinter meinem Rücken: „Ihnen geschieht nichts“. Auch die anderen haben sich beruhigt bis auf einen. Er hält den Hahn angezogen und läßt mich nicht aus den Augen. Ich sage kaum ein Wort, aber fest und fester spanne ich den Gedanken: Du tust mir nichts! Die anderen beginnen, auf den Mordlustigen einzureden, und am Ende beschließt auch er, von mir abzustehen. Beim Verlassen des Hauses fragt er, ob ich um 4 Uhr morgens noch da sein würde. Ich versprach es und ich hielt Wort. Aber jene kamen nicht. Die Nacht war schauerlich! Der Schlaf floh uns, wiewohl wir alle schon zwei Tage und eine Nacht in Aufregung gelebt und kaum etwas an Essen zu uns genommen hatten. Wir vergessen es geradezu.

    Wir erstaunten, als eine halbe Stunde verging, ohne daß neue Banditen kamen. Wir verkrochen uns alle in die Kammer neben der Küche und saßen oder lagen vor Ermattung und lauschten. Daß wir die Nacht allein sein sollten, glaubten wir nicht. Es war Mitternacht und das leiseste Geräusch zu hören. Die erregten Frauen vernahmen Schritte und Pochen, auch wenn es nicht der Fall war.

    Die Räuber haben sich zur Ruhe begeben. Sie haben es nötig, auf Raub auszugehen, wenn es finster ist.

    Wir finden ein paar Decken, breiten sie auf dem Fußboden aus und legen uns alle nebeneinander darauf. Gegen Morgen wird es kühl, die Nervenspannung läßt nach, wir frösteln, und machtvoll kommt die Müdigkeit. Es wird wieder hell, und niemand besucht uns. Wir begreifen die Stille nicht. Aber gegen 8 Uhr kommen wieder einzelne Trupps, die zu essen begehren. Sie müssen einsehen, daß uns für sie nichts mehr geblieben ist. Statt Mitleid erregt das nur Aerger und Wut gegen uns. Um 10 Uhr ertönen schrille Pfiffe, und bald sehen wir durchs Fenster, daß sie abziehen wollen. Die Reiter sammeln sich in Trupps, und ein eigenartiges Bild bietet sich uns. Die Droschken sind mit Raub vollgepackt. Die Leute haben Kleider an, die noch am Tage vorher in unseren Schränken gehangen haben. Große farbige Tischdecken liegen unter den Sätteln, zu beiden Seiten hängen oft dicke Federbetten herab. Vereinzelt sprengen sie noch auf den Hof zurück, um möglicherweise noch einen goldenen Ehering oder eine Uhr zu rauben, was jedoch meist schon vorher alles abgenommen ist. Mancher hat eine Hand voll Goldringe in der Tasche.

    Ein Gesicht hat sich mir angenehm in mein Gedächtnis geprägt. Verlegen lächelnd kam ein junger, intelligent aussehender Mensch heute morgen an unsere Verandatür und bat um ein Stück Brot. Er bat. Daß jemand bat und nicht verlangte, war uns befremdlich. Ich sah ihm ins Gesicht. Das war kein verkommener Mensch. Drum ging ich auf ihn zu und fragte, wer sie eigentlich seien, denn gestern forschte ich vergebens danach. Sie waren Anhänger Machnos, aber er schämte sich, auch darunter zu sein. Die Not hat ihnen diesen Menschen zugeführt. Er hat vor der Entscheidung gestanden, sich von ihnen umbringen zu lassen oder sich anzuschließen. Er hat nie gedacht, daß er einmal Anarchist werden könnte. Ich mache mir Gedanken darüber, was die Umstände aus einem Menschen machen können. Ich erwäge, ob es nicht auch in Westeuropa möglich wäre, daß viele brav und, wie man sagt, gut sind, solange die gesellschaftliche Ordnung als unumstößlich gilt, sie aber haltlos mitgerissen werden, sobald die Ordnung durchbrochen ist.

    Die Töchter des Hauses treten an mich heran und wir stellen an uns die bange Frage, was der heutige Tag bringen würde. Unsere Blicke suchen den Weg ab, der von Weiten kommend, in unser Tal führt. Den Weg waren gestern unsere Peiniger gekommen. Er war leer. Wir hoffen, daß nun die Gefahr vorüber ist. Meine Schützlinge atmen auf. Wir begrüßen den sonnigen Sonntag wie Neugeborene. Freilich lag der Schreck noch in den Gliedern. Auf der Straße ertönen noch ab und zu Rufe, Pfiffe und Schüsse. Es waren die Letzten, die Zurückgebliebenen. So glaubten wir.

    Eine halbe Stunde fühlen wir uns uns selber zurückgegeben. — Plötzlich aber erscholl des Nachbars Stimme an unserm Fenster: „Sie kommen schon wieder! Diese Nacht hat es fünf Tote gegeben“, fügte er hinzu und rennt in großen Sprüngen wieder auf seinen Hof.

    „Fünf Tote“? geht es von Mund zu Mund. Wir spähen auf den Weg. Wie ein schwarzes Ungetüm drängt es zu uns herab ins Tal. Wir sehen es mit wachsendem Grauen. Lange stehen wir — es deucht uns lange zu sein — und sehen unverwandt auf den Zug, ob er wohl ein Ende nimmt. Aber selbst  nach einigen Stunden ist der Weg immer noch voll Reiter und Fuhrwerke. So ist das Maß unserer Leiden noch nicht voll?

    Es währte nicht lange, so waren alle Straßen, alle Höfe, alle Häuser von neuem angefüllt von diesen Gesellen.

     Wir haben wieder Besuch im Hause. Aber heute konnte die Beutegier nicht mehr gestillt werden und das bringt sie in Wut, die wir entgelten sollen. Unsere Situation ist heute viel bedrohter als gestern. Um 10 Uhr etwa kamen drei Männer, deren finstere Mienen uns besonders unheimlich erschienen. Die Abwesenheit des Hausherrn und das stattliche Aussehen des Hauses steigerte ihre Wut. Aber merkwürdiger Weise fluchten und schimpften sie nicht so wie die meisten es vorher getan hatten. Das war ein Ventil für ihre innere Erregung gewesen, und darum schienen mir die lauten Gesellen nicht so gefährlich, wie diese verbissenen Gesichter. Sie platzten nur ein paarmal heraus. „Das ist hier so richtig das Brutnest eines Bourgeois“ und „arm nennen sich diese Leute“. Nun wurden sie des fünfzehnjährigen Sohnes gewahr und befahlen ihm, in das anstoßende Badezimmer zu gehen. Als eine Schwester den kleinen Dolch erblickte, den der finster blickende Mensch bereit hielt, was wir anderen bisher übersehen hatten, erriet sie die Gefahr und trat schützend vor den Bruder. Da erhob er seine Hand und zückte den Dolch gegen sie. Nun begriff auch ich die drohende Gefahr und redete auf den Mordbereiten ein. Es gelang mir nur mit großer Mühe, ihn von seinem Mordplan abzubringen mit denselben Mittel wie gestern: mit der Suggestion, d. h. mit dem Entgegensetzen meines Willens, der seinen Willen von seinem Entschluß entwaffnete. Wie vertriebene Beelzebuben wichen die finsteren Gesellen aus dem Haus. Es war bereits ihr zweiter Besuch, und sie drohten mit einer Wiederkehr. Ich konnte nun nicht mehr daran glauben, daß ich sie noch einmal würde hindern können, denn ich war zu sehr abgemattet. Die seelische Spannung war so groß gewesen, daß ich mich aus der Ermattung nicht nochmals zur früheren Stärke der Willenskraft hätte aufraffen können.

     Der Junge war von der unmittelbaren Todesgefahr so von der Angst gepackt worden, daß wir ihn kaum beruhigen konnten. Wir mußten an Flucht denken und das Haus preisgeben. Was nützte unsere Anwesenheit? Wir konnten doch nichts retten. So beschlossen wir, im Schutze der Gärten zu flüchten. Jeder raffte eilig ein Bündel zusammen und dann stahlen wir uns davon. Kaum waren wir im Schutze der ersten Bäume, da kamen dieselben Gesellen abermals auf den Hof. Wir sahen sie und fürchteten, erkannt zu werden. Wir fühlten, daß uns der Tod auf den Fersen war. Ein paarmal glaubten wir uns verfolgt. Atemlos verharrten wir dann lange Minuten hinter Baumstämmen oder Büschen, bis wir überzeugt waren, daß die Bewaffneten, die uns gesehen hatten, in irgendeinem Hofe verschwunden waren. Plötzlich aber hörten wir deutlich in der Nähe ein Geräusch im Gebüsch. Mit fast erstarrtem Blut bleiben wir stehen und sehen uns an: mir scheint es jetzt in der Erinnerung, als hätte in den Augen der Frauen der Abschied vom Leben gelegen. Die bange Erwartung ließ die Minute zu einer Ewigkeit werden. So relativ ist auch das Zeitmaß. Wir haben nur eine relative Vorstellung vom Absoluten.

    Statt eines Schußes aber oder eines triumphierenden Rufes hörten wir auf einmal eine Flüsterstimme aus dem Busche, die zu uns in deutscher Sprache sprach:

    „Verlasst auch ihr euer Haus“? Meine Schützlinge erkannten die Stimme. Es war ein Nachbar aus unserem Ort.

    „Ich bin schon drei Stunden in diesem Versteck“, erzählte er leise. „Die Menschen, die bei mir übernachteten, und denen wir zu essen gaben, was wir hatten, die in unseren Betten schliefen, sie wollten mich heute morgen erschießen. Der Schuss ging fehl, ich floh in die Gärten. Mich quält nun der Gedanke, was aus meiner Familie geworden ist. Haben Sie meine Frau und meine Kinder gesehen?“ fragte er angstvoll.

     Nein, wir hatten niemand gesehen.

    „Meine Stiefel“, erzählte er, auf seine bloßen Füße deutend, „mußte ich ausziehen und ihnen geben. Ich sollte mein vergrabenes Gold hergeben. Wir Deutschen sollen alles haben: Gold, Geld, Kleider — alles unbegrenzt viel“, fügte er bitter hinzu.

     Er versuchte, sich aufzurichten: er stöhnte. Sie haben seinen Rücken mit Knuten zerschunden, damit er versteckte Sachen hervorhole. Ich wandte mich ab, um meine Rührung zu verbergen. Was hat man vor mit uns? Wo ist Rettung? Ich sehe keine! Wir sind verloren!

     Wie Diebe müssen wir uns weiter fortstehlen. Lange kauern wir auf einer Tenne hinter einem Strohhaufen, bis der Hof für einen Augenblick frei wird. Das Wohnhaus hindert den Ausblick nach der Straße. Im Hause steht eine Witwe mit zwei halb erwachsenen Kindern. Die Tochter besucht mein Seminar, und ich erkenne sie wieder, aber wie verändert ist sie! Auf ihren jungen Augen liegt ein namenloses Leid. Blass und verstört sehen auch die anderen aus. Nie erlischt der Stempel des Leides aus diesen Gesichtern und wenn sie alt werden sollten. Oder sind wir allesamt zu frühem Tode bestimmt?

     Unser Ziel ist das Lehrerseminar, wo ein Lehrer wohnt, der ein naher Verwandter meiner Schützlinge ist. Wir müssen über die Straße gehen. Dort aber sind die Anarchisten. Wir müssen es wagen. Niemand spricht uns an. Wir sehen wohl wirklich nicht aus wie Bourgeois-Kapitalisten in unseren an Stachelzäunen zerrissenen Kleidern.

     Im Seminar kommen wir uns geborgen vor, denn nach dem entlegenen leeren Schulhaus lockt es niemand von den wilden Menschen. In einem Kellerraum, der ein mattes undurchsichtiges Fensterglas hat, wollen meine Schützlinge bleiben. Schmale Bänke stehen darin. Darauf wollen sie schlafen. Mir bleibt nichts mehr für sie zu tun übrig, als mich von Zeit zu Zeit von meiner Wohnung hierher zu schleichen und ihnen Mut zuzusprechen.

     Ich höre die Mitternachtsstunde schlagen. Zwei Stunden haben wir Ruhe gehabt. Ich will nun versuchen, auf meinem Bette, wenn auch in Kleidung, auszuruhen.

     

Folge III

Chortitza-Rosenthal, am 24. September 1919

    Kein Mensch hat gestern daran gedacht, daß Sonntag war. Wir kamen gar nicht zur Besinnung. Drei Tage lang ziehen die Anarchisten nun schon durch unseren Ort. Viele Tausende sind vorbeigekommen, und jeder hat geraubt. Man hat den Landwirten kein einziges Pferd gelassen. Und jetzt sollte die Wintersaat bestellt werden! Aber wer denkt an seinen unbestellten Acker? Solange die Machno-Leute bei uns sind, ist unsere einzige Sorge, das Leben zu erhalten.

    Die meisten sind so gefügig, daß sie widerspruchslos ihre letzten Stiefel ausziehen und barfuß gehen. Schwerer ist für die Bauern, zuzusehen, wie man ihren Weizen wegholt, wie man das letzte Mehl den Pferden verfüttert.

   Am schlimmsten ergeht es den Familien, deren Söhne in der sogenannten Freiwilligen-Armee des Generals Denikin dienen. Da gibt es keine Schonung. Gestern abend wurde ein Nachbarhof durch Feuer zerstört. Man wußte, daß der Sohn in der Freiwilligen-Armee war. Es war ein großer Hof. Auf dem Boden lag viel Getreide, das Wohnhaus war neu, Stall und Scheune waren voll von Futter, Ackergeräten und Maschinen, ich ging an der Brandstätte vorbei. Ich sah Bewaffnete am Tore und auf dem Hofe, die nicht gestatteten, daß irgend etwas gerettet würde. So wurden mehrere Häuser vorsätzlich eingeäschert. Nachts brannte das große schöne Haus des Fabrikbesitzers ab. Weithin leuchtete der helle Schein.

   Aber weit schlimmere Dinge geschehen. Männer werden erschlagen, Frauen geschändet. Gerüchte sind im Umlauf, daß die Zahl der Anhänger Machnos lawinenartig wächst. Man spricht von 100000 Mann. Sicherlich wissen diese unorganisierten Anarchisten selber nicht, wieviel ihrer sind.  Daß es viele Tausende sind, sehen wir, denn während drei Tagen ziehen sie ununterbrochen durch unseren Ort über die Dnjeprbrücke. Dreimal vierundzwanzig Stunden sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, haben nicht geruht. Wir sind todmüde, aber sobald  der Hund bellt, schnellen wir auf und lauschen auf nahende Schritte.

    In der letzten Nacht waren sie viermal an unserem Hause. Mein Freund und seine Frau verließen sich darauf, mit ihnen zu verhandeln Zweimal kauften sie sich von einem nächtlichen Besuch los durch ein Paar Hosen. Zweimal konnten sie ihn nicht verhindern. Fürchterlich ist ihr Besuch am Tage, aber noch unheimlicher ist ein nächtlicher Ueberfall. Wir hatten kein Oel zur Beleuchtung, und so tappten sie polternd und fluchend durch die Zimmer. Sie zündeten Streichhölzer an und warfen sie brennend in die Betten und Schränke. Wir gingen hinterher und achteten darauf, daß kein Feuer entbrand.

    Es ist schwer für die Eltern, vor ihren Kindern aufrecht zu bleiben. Die Kinder merken allmählich, daß die Eltern ebenso machtlos sind wie sie. Das kleine achtjährige Mädchen steht zwischen uns am Fenster, als wir auf Tritte lauschten. Ich fühle ihr Herz ängstlich klopfen, während wir mit größter Anspannung hinaussehen. ,,Da, Vater!“ ruft sie und klammert sich krampfhaft an meinen Freund. Eine Gestalt geht am Fenster vorbei. Atemlos verleben wir eine, lange bange Minute der Erwartung — und dann erfolgte der erste Schlag an der Tür. Obwohl wir ihn erwarteten, erschrecken wir dennoch so, daß wir zunächst nicht wagen, an die Tür zu gehen. Als aber die Schläge an Zahl und Stärke zunehmen, eilen wir, die Tür zu öffnen, um die Wut der Eindringlinge nicht zu steigern.

    Frau Grete, die Gattin meines Freundes, hat gestern den ganzen Tag gekocht für die ungebetenen Gäste. Das Mehl ging aus, und so mußte geknetet und gebacken werden. Niemand will sich abweisen lassen. Sobald drei oder vier Mann ins Haus kommen, erteilen sie zuerst den Befehl, ihnen eine Mahlzeit zu bereiten, und wenn sie auch vor einer halben Stunde im Nachbarhause gegessen haben. Sie sind gefräßig wie die Heuschrecken.

    Frau U. an der Hauptstraße hat jetzt 50 Mann Einquartierung, die sie zu füttern hat. Daneben muß sie seit einigen Tagen täglich 5 Pud Mehl (ca. 80 kg.) verbacken. Frau Gretes Bruder mußte während der zweiten Nacht mit seiner Familie fliehen, weil sein Sohn unter den Freiwilligen ist. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhalten. Sicherheit gibt es nirgends, denn diese Anarchisten haben es auf alle deutschen Hofdörfer abgesehen. Das Haus der geflüchteten Familie ist der Willkür preisgegeben. Es geht dort wie im Bienenhause, nur mit dem Unterschiede, daß nicht hinein-, sondern hinausgetragen wird. Da schleppt einer an einem Bündel Kleider, dort wirft jemand Stühle durchs Fenster auf die Straße. Ein dritter führte die Kuh davon. Die fetten Schweine wurden gestern auf dem Hofe geschlachtet. Als Frau Grete davon hörte, war sie verwegen genug, um hinzugehen, um vom geschlachteten Schweine etwas zu retten. Wie ein armes Weib verkleidet, drängte sie sich an den Fleischtisch. ,,Her damit“, ruft sie, ,,hier gibt es etwas für die Armen!“ und schob einen Schinken in den Sack. Darauf schickte sie einen 15jährigen Jungen hin, den sie lehrte, wie er sich zu benehmen hätte, und er holte herüber, soviel er tragen konnte. Der kleine Russenjunge ist uns sehr zugetan. Das Abenteuer reizte ihn und noch etliche Male ging er hinüber, um auch Sachen für die geflüchtete Familie zu retten. Schwierig war es, das Gerettete den Späheraugen der Räuber zu verbergen. Wie einen Sack Spreu schleppte der Junge die Sachen in den Kuhstall, wo wir dann einen Sack mit Kleidern und etwas Wäsche in der Spreu vergruben.

    Ich habe einige mir wertvolle Sachen am Abend unter den Dachsparren am Giebel versteckt. Weh mir, wenn sie gefunden werden! Wenn sie ein Versteck entdecken, benehmen sie sich, als ob wir ein Staatsverbrechen begangen hätten und verschonen fortan nichts.

   Mein Freund und ich sind besorgt um die Zukunft unserer Ansiedelung. Sie haben es auf unsere Vernichtung abgesehen. Leute, die keine Ahnung von der Politik und Weltlage haben, hoffen auf Deutschlands Hilfe. Sie glauben, deutsche Truppen werden wiederkehren, um nochmals die Ukraina zu besetzen. Man ist mir gram, wenn ich diese Illusion zerstören möchte. Es nützt doch wahrhaftig nicht, seine Hoffnung auf Sand aufzubauen. Deutschland ist besiegt, und wenn wir auch nicht wissen, wie der Friede ausgefallen ist, so ist es immerhin undenkbar, daß man Deutschland die Ukraina zur Besetzung überlassen wird.

Chortitza-Rosenthal, am 27. September 1919.

    Heute ist der erste Tag, an dem die Anarchisten nicht mehr durch unsere Straßen ziehen. Sechs Tage lang währte unsere Heimsuchung. Verängstigt und zaghaft kommen die Menschen aus ihren Häusern und treten in kleinen Gruppen zusammen. Jeder will sein Herz ausschütten, um sein Gemüt zu entlasten.

    Wie sieht es nun aus in diesen ehemals so sauberen und ordentlichen Hofdörfern! Selbst die Hausfrauen, die sonst keine Unordnung im Hause ertragen können -- auch sie lassen ermattet die Hände im Schoß liegen. Was haben diese Frauen ertragen müssen in diesen Tagen! Tag und Nacht haben sie den wüsten Rohlingen gedient.

    Man hat kaum Kraft, sich zu freuen darüber, daß die Anarchisten uns verlassen haben. Die Familienhäupter denken an die Zukunft. Die Wintersaat muß eingesät werden. Aber die Pferdeställe sind leer. Kadaver liegen an Straßen und Wegen, wo die tolle Fahrt der Machno-Bande vorüberging.

    Warum? Und was nun? Das sind die Fragen, worauf die wenigsten eine Antwort finden.

    Die Machno-Anarchisten wollen über uns deutsche Kolonisten hergefallen sein in der Annahme, wir hielten es mit Denikin. Es kann freilich nicht geleugnet werden, daß die Kolonisten, wie wohl sie neutral zu sein vorgeben, doch der Gegenpartei der russischen Bauern mehr Sympathie entgegenbringen. Während die ukrainische Bauernschaft sich auflehnte gegen die Wiederherstellung des alten Regimes, blieben die Kolonisten loyal. Sie ließen sich sogar anwerben; allerdings wurden sie betrogen; man sagte ihnen, daß sie ohnehin bald mobilisiert werden würden und versprach ihnen, sie als Selbstschutz in ihrem eigenen Gebiet zu organisieren. Was wußten unsere Hofsiedler von Politik! Viele junge Söhne, die infolge der deutschen Okkupation deutsch-national und anti-russisch gesinnt waren, glaubten gar, daß der Tag der Rache für die Plünderung im vergangenen Sommer gekommen sei. Doch hatten sie bisher niemand ein Leid angetan. Wohl haben sie die Okkupationstruppen unterstützt und manchmal törichterweise Führer aus früheren Revolutionsphasen angegeben.

    Die ukrainische Bauernbevölkerung versteht die hochgepriesene Freiheit im anarchischen Sinne. Sie halten Freiheit einer Zügellosigkeit gleich. Und da auch die Bolschewiki in das Chaos der Oktober-Revolution Ordnung hineinzubringen versuchten, ja sogar zum direkten Gegenteil der individuellen Freiheit, zur Diktatur, ihre Zuflucht genommen haben, so lehnen die ukrainischen Bauern auch die Bolschewiki ab, besonders da die Bauern außer der Landeinteilung keinen weiteren Kommunismus wünschen. Die Willkür aber hat Väterchen Machno aufs Panier geschrieben, darum schließen sie sich ihm an. Wie mühelos kann man da zu Kleidern und Besitz kommen! Es bedarf doch wahrlich keines Heldentums, mit der Waffe in der Hand den Wehrlosen auszurauben.

     Welcher Zukunft gehen wir entgegen?

     

 

Folge IV

 

Chortitza-Rosenthal, am 1. Oktober 1919

    Machno soll über die Dnjeprbrücke hinweg ins Taurische Gouvernement gerückt sein, und die Richtung nach Berdjank eingeschlagen haben. Dann trifft er auf die 100 deutschen Hofdörfer in der reichen Molotschnaja-Gegend. Auch sie sind somit der zügellosen Willkür preisgegeben.

    Bei uns geht die Anarchie weiter, wenn auch die Machno-Anarchisten fort sind.  In den benachbarten ukrainischen Dörfern haben sich größere und kleinere Banden gebildet, die nach dem Muster der Vorgänger offen ihr Erpressungswesen weitertreiben. Sie legen Kontributionen auf, die wir nicht zahlen können und greifen zu Inquisitionsmitteln oder Erschießungen. Sie wollen nicht begreifen, daß bei uns garnichts mehr zu holen ist, besonders auch schon deshalb nicht, weil die Mühlen- und Fabrikbesitzer, als sichere Todeskandidaten, sämtlich geflohen sind.  Diese Hyänen des geräumten Schlachtfeldes sind aber fast noch gräßlicher als die Machno-Anarchisten. Sie nehmen Geiseln mit und martern sie.

    Heute stand meine Schülerin, eine 18jährige Seminaristin, vor mir und bestätigte mit stummem Nicken, was ich bereits gehört hatte. Ihr Vater, ein angesehener Bürger, der sich viele Verdienste um diese Ansiedelung erworben hat, wurde als Geisel mitgenommen, und nun liegt er tot jenseits der Dnjeprbrücke. Die Söhne wollten die Leiche herüberholen, um sie zu bestatten. Mit Schimpf wurden sie davongejagt. Wahrlich eine Sophokles-Tragödie!

    Gestern besuchte uns ein Sparkassenbeamter. Er zeigte uns seinen geschundenen Leib. Man gerät in Wut angesichts solcher Barbarei.

   Aber wir sind machtlos aller Willkür preisgegeben. Der leiseste Widerstand würde unsere Lage nur noch verschlimmern. Hin und wieder sind Männer unter uns, die ahnungslos nur durch ruhige Haltung, durch ein Wort zur rechten Zeit und einen zähmenden Blick hier und da ein Uebel abwenden können. Viele beklagen ihre Toten, die erschlagen wurden, andere irren obdachlos von Ort zu Ort.

   Auf der Insel haben die Banden eine richtige Bartholomäusnacht veranstaltet. Wer nicht umkam, mußte fliehen. Kein Deutscher ist mehr in dem einst so rein deutschen Inseldorf.

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 3. Oktober 1919.

    Wir sind rettungslos verloren. Alle Straßen sind voll. Der Strom der Machno-Anarchisten flutet zurück. Sie werden über die Dnjeprbrücke auf das rechte Ufer zurückgedrängt. Wer treibt sie? Welche Macht? Niemand weiß es. Die Wut der Zurückgeschlagenen ist groß. Und wir sollen sie wieder fühlen. In den deutschen Dörfern um den Brückenkopf herum staut sich der Strom dieser regellosen vieltausendköpfigen Menge, die nur durch gemeinsame Gier nach Raub zusammengehalten wird.

    Wir entließen nach dem Eintreffen dieser Menschen rasch alle Seminaristen und jeder eilte zu seiner Familie.

   Welche Aussicht! Nicht durchziehen, sich hier festsetzen wollen diese Heere! Alle Häuser werden in Besitz genommen. Auf den Höfen wimmeln die Bewaffneten wie Ameisen durcheinander.

   Wir standen vor der Tür am Zaun und sahen hinunter auf die Höfe. Plötzlich brach hinter uns der Grenzzaun krachend ein; ein Reiter zwang sein Pferd durch die enge Pforte und riß den Eckpfahl nieder. Dann faßte er die Knute und hieb auf das arme Tier ein und zerrte dann an den Gebißzügeln, als wollte er das Maul des armen Tieres entzweisägen.

    ,,Holt Kleider heraus!“ schrie er laut und wild. Meines Freundes Besänftigungsversuche konnten ihn nicht abbringen von seinem Begehren. Schweren Herzens gab er die letzten Reservehosen her. Unter uns hören wir Fensterscheiben klirren, Türen knallen, Pfiffe gellen. Pferde wiehern und stöhnen, Kühe brüllen. Wilde Menschen reiten durch die Gärten, brechen Bäume und Zäune nieder, rufen, schimpfen, fluchen. Jeder Hauswirt ist Diener und Sklave der gestrengen Herren. Diese feiern wilde Orgien mit Gebrüll und Hohngelächter.

   Sie befehlen: „Wirt, hol „uns Futter für die Pferde! Geh’ und suche Heu und Hafer, wenn du selber nichts hast“! Sie zwingen wahrlich noch zum Stehlen. Freilich, niemand von uns wird dem Nachbar wehren oder es ihm übel nehmen.

   Die Frauen kochen und backen für die Gäste. Die Kühe werden geschlachtet und reicher Braten wird aufgetischt. So leben diese neuen Herrscher!

 

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 6. Oktober 1919.

    Seit vier Tagen kommen wir nicht aus den Kleidern. Vorige Nacht hatten wir 19 Mann zu beherbergen. Zuerst waren es nur 8 Mann. Nach und nach vergrößerte sich ihre Zahl. Um Mitternacht kamen die letzten. Für jeden mußte eine Mahlzeit bereitet werden. Die Letzten hatten einen Verwundeten bei sich. Noch niemand hörte ich so fluchen wie diesen Mann, der eine Bleikugel im Leibe hatte.

   Heute morgen gab es für Frau Grete eine große Aufregung. Jemand von den Beherbergten hatte nachts die 100 Eier gefunden, die sie so lange versteckt gehalten hatte. Sie waren für den Winter zurückgelegt. Frau Grete weigerte sich, alle Eier auf einmal zu kochen. Ihre Geistesgegenwart machte oft die Verwegensten stutzig; aber diesmal kam sie fast in Lebensgefahr durch ihren Widerspruch. Auch sie mußte parieren. Die anderen sind eben die Gebieter.

   Die Polternden unter ihnen sind allemal nicht die gefährlichsten. Es gibt solche, die nicht viel Worte machen, sondern bei der ersten Regung handeln: sie zaudern keinen Augenblick, einen Menschen niederzustechen. Sie kennen keine inneren Hemmungen. Es sind echte Anarchisten, die kein Gebot kennen.

   Ich hätte Lust, die Psyche dieser Menschen zu erforschen. Aber ein Forscher müßte unbeteiligt sein. Mir gehts zu tief durchs Herz.

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 7. Oktober 1921

    Gestern abend verließ unsere Einquartierung das Haus, um an die Front zu gehen. Am Dnjepr entlang hat sich eine Kampffront gebildet. Für den Kampf scheinen auch diese sonst so regellosen Haufen eine gewisse Organisation zu haben. — Es ist ein wüstes Knattern und Schießen. Von der Gegenseite, von der Stadt Alexandrowsk aus, wird unser Ort aus Geschützen beschossen. Aber das schreckt uns nicht. Ganz nahe unserem Hause krepierte ein Geschoß mit einem ohrenbetäubenden Knall. Die Splitter liegen vor unserer Haustür. Wir atmen auf, weil wir glauben, daß es eine Frontverschiebung gibt.

   Der Kirchenälteste hat sein Häuschen verlassen müssen. Er hat gar nichts gerettet. Er muß sich verstecken. Ein paar Nächte versteckte ich ihn in meinem Zimmer. Er hört schwer und bat mich, ihn zu wecken, falls er einschlafen sollte. Der alte Mann, der sein Lebtag ein wahrer Seelsorger gewesen ist, schläft hier wie ein Flüchtling ohne Ruh und Haus in meinem Bett. Es ist tragisch. Man hat es auf ihn besonders abgesehen. Er weiß nicht, wie sehr man ihm nachstellt. Wir schonen ihn. Aber heute nacht soll er fort; wir wollen ihn dazu überreden. Es ist dunkel, kalt und schmutzig draußen. Er muß seine Gemeinde verlassen, und sich wie ein Dieb in der Nacht durch Schluchten und Täler fortstehlen. Ich weiß, er wird sich weigern. Aber er kann uns nichts nützen, denn man schont sein Leben sicher nicht. Hoffentlich kommt er ungesehen fort.

 

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 8. Oktober 1921.

    Noch ehe es Nacht wurde, füllte sich unser Haus von neuem. Wir ließen den Aeltesten durchs Fenster steigen, und dann ist der alte Mann in die finstere Nacht gegangen, watend im tiefen Schlamm, der sich nach dem Herbstregen fast knietief gebildet hatte.

   Ich wagte mich heute auf die Straße. Niemand von der heimischen Bevölkerung ist mir begegnet. Man wagt es nicht. Die Straßen sind sehr belebt. Aber es sind nur Anarchien, die von einem Hof zum anderen gehen. Reiter sprengen auf dem Bürgersteige dahin, als wäre jeder ein Meldereiter. Ich sehe ihnen mit meinen Wickelgamaschen offenbar ähnlicher, als die Kolonisten in ihrer ärmlichen Kleidung; denn keiner hält mich an. Ich paßte mich übrigens ihrem Gebahren an. Ich sah so frei drein, daß ein paar Anarchien grüßten. Ich hatte Schuhe an und war rasiert, was man an den Kolonisten nicht beobachten kann. Rasiermesser und Schuhe sind allenthalben zuerst gestohlen worden.

   Heute war unser Nachbar W., den ich seit vierzehn Tagen nicht sah, bei uns. Ich erkannte ihn kaum. Grau ist er geworden.

   Frau Grete kam heute auf eine verwegene Idee. Ihre Kuh ist gestern gestorben. Der kleine Russenjunge hat gesehen, daß im Stalle ihres geflüchteten Bruders noch eine Kuh steht. Frau Grete kleidete sich an wie eine arme Bettlerfrau und ging mit einem Sack über der Schulter in das Haus ihres Bruders. Dort trat sie vor den Bandenführer und redete ihn an: „Höre, ihr streitet doch für die Armen, nicht wahr? Ich bin eine arme Frau, und möchte in den Besitz einer Kuh kommen. Gebt mir die Kuh heraus, die hier im Stalle steht“!

   „He du“, erwiderte jener, „die Kuh behalten wir; aber du kannst sie täglich melken. Dafür nimmst du dir etwas Milch mit für deine Kinder“. Frau Grete wußte, daß die Kuh ebenso gut morgen schon verschwunden sein konnte wie auch dieser Mann. Sie ging in den Stall und entführte die Kuh.

   Als man ihr nachrief, erwiderte sie kühn: „Ich nehme sie mit und melke sie zu Hause, ihr trinkt ja doch die Milch, wo immer ihr seid“!

   Jene lachten: „Teufelstochter“! Der freche Diebstahl flößte ihnen Achtung ein. Sie ahnten nicht, daß Frau Grete ihrem Bruder die Kuh retten wollte.

   Nachmittags. Ich war im Seminarkeller bei meinen Schützlingen. Sie sind nicht entdeckt worden, aber nun merken wir, was alles ihnen fehlt. Am Tage nach der Flucht war ich mit einer Tochter im Hause, um einige nötige Sachen zu holen, aber wir fanden nichts mehr, das in der Tat von Nutzen gewesen wäre. Es war keine Decke mehr vorhanden.

    Heute nun erzählen sie mir, daß auch ihr Haus in Schutt und Asche läge. Traurig ließen sie den Kopf hängen. Obdachlos! Und der Winter ist vor der Tür. Es wird schon kalt draußen. Der Familienvater ist nicht da. Das ist das Schicksal vieler. Wen wundert es, wenn viele dieser Unglücklichen sterben wollen?

    Und der Kampf am Dnjepr dauert noch an. Jene drüben können nicht herüber kommen und diese nicht hinüber. Die Anarchisten setzen sich fest auf dieser Seite. Selbst Fernsprecher haben sie mitgebracht, in unserem Hause ist eine Fernsprechstelle errichtet. 8 Mann Bedienung sind dabei. Man wird aus ihrer Sprache nicht klug, denn sie bedienen sich vereinbarter Kennworte, die ihre Unterhaltung für uns unverständlich machen. Wie sehr wir auch die Ohren spitzen, wir erraten den Sinn nicht.

   Mein Freund erzählt mir, daß die Telefonisten ihn nach mir ausgefragt hätten. Mein Aussehen hat sie befremdet. Ich trage ausländische Kleider und einen Filzhut.

   Mein Freund hat ihnen gesagt, der Mann, dessen Aussehen sie so befremdet hätte, sei ein Schriftsteller.

„Also ein Dichter“, hat der Kommandant wichtig betont. Seither begegnen sie mir mit Achtung. Wir haben nicht geahnt, daß ein Dichter in ihren Augen als etwas besonderes galt. Die Telefonisten meinen, gebildet zu sein, weil sie schreiben und lesen können. Sie sehen offenbar ein, daß sie uns durch brutales Auftreten nicht imponieren und wollen als intelligent gelten. Das muß ich mir zunutze machen.

     

   Tagebuch aus dem Reich des Totentanzes

Dietrich Neufeld, 1921

Folge V

Chortitza-Rosenthal, am 10. Oktober 1919.

     Man könnte lachen, wenn alles um uns herum nicht so tragisch wäre! Ich soll ein Gedicht auf Machno machen! Das haben unsere Telefonisten gewünscht. Sie haben es nicht mir gesagt, sondern meinen Freund gefragt, ob ich wohl dazu bereit sein würde. Sie stellen sich vor, Väterchen Machno müsse auch mir als Held erscheinen. Sie wollen das Gedicht Väterchen überreichen und dann seiner besonderen Gunst sicher sein.

    Mein Freund hat es ihnen auszureden versucht. Ich schriebe nur deutsch, hat er gesagt. Das wundert sie: sie hätten geglaubt, daß ich ebenso gut Russisch schriebe wie ich spreche. Sie hätten mich sehr darum gebeten. Es sagte aber niemand etwas zu mir, und ich benehme mich, als wüßte ich nichts von ihrer Unterredung mit meinem Freunde.

    Gestern machte ich mir etwas auf dem Hofe zu schaffen, denn es wird einem fast unmöglich, etwas zu lesen oder zu schreiben: die innere Spannung ist zu groß. Die Gedanken jagen wie gehetzt im Gehirn herum. Da sucht man sich irgendeine Handarbeit; das beruhigt am ehesten. Diesmal mühte ich mich, das Fell der verendeten Kuh über eine Stange zu spannen und im Schuppen aufzuhängen. Das sah der Kommandant. Er eilte herbei, grüßte und half bereitwillig. Ich war verdutzt. Das hätte ich von solchen Menschen nicht erwarten können nach ihrem bisherigen Benehmen. Wir kamen in ein ruhiges Gespräch, wobei er meine Ansichten gelten ließ und mich nie dutzte, wie es diese Leute noch immer tun. Ich bekam den Eindruck, daß dieser Mann an sich keine verbrecherische Natur ist. Er erzählte mir von seinem Vorleben. Er ist Kosak. Während des Krieges hat er sich wiederholt ausgezeichnet durch seine Tapferkeit. Er war Unteroffizier und ist dann Feldwebel geworden. Aber nach und nach ist ihm die Korruption der Offiziere und Beamten zum Bewusstsein gekommen. — Nach dem Ausbruch der Revolution war er Vorsitzender der Kreissowjets in seiner Heimat am Don. Er handelte nach den Direktiven aus der Zentrale und glaubte, dem Volke zu dienen. — Nach dem Abzüge der Deutschen aus der Ukraina bildete sich in ihrer Gegend die Armee des Generals Denikin. Sie ließ eine fürchterliche Racheexpedition übers Land gehen. So wurde auch er als ehemaliger Vorsitzender der Sowjets festgenommen und von Offizieren zu 80 Hieben mit dem Ladestock verurteilt. Nur dank seiner ungemein kräftigen Konstitution überstand er diese Marter, aber den Offizieren und ihren Anhängern schwor er ewige Rache und wird ohne Zaudern dabei geriet er in Eifer — jeden Offizier, den er findet, erschießen.

    Ich fragte, ob er es gut heiße, daß man alle schönen und guten Häuser verbrenne, nur weil Anhänger des alten Regimes darin gewohnt haben mochten. Es sei doch eine törichte Vernichtung des Volksvermögens. Nein, er hieß solche Zerstörung nicht gut, aber ihre Leute wären nun einmal nicht zu zügeln.

Ich kann das psychische Verhalten dieses Mannes verstehen, aber ich muß die Konsequenzen seines Handelns verurteilen und ihn deshalb für verirrt halten. Wären alle Machno-Anhänger wie dieser, man könnte versuchen, sie umzustimmen, dieser hörte auf das, was ich ihm sagte und folgte meinen Ausführungen. Ich bat ihn, seine Kameraden doch zur Einsicht zu bringen. Er schien von der Möglichkeit, die Raub- und Mordlust zu dämpfen, nicht überzeugt zu sein. Mag sein, daß auch ihm noch zu sehr Bedürfnis ist, Rache zu üben. Sein starkes Erlebnis hat offenbar eine ungemein starke Reaktion wachgerufen, die er verdrängen mußte. Und jene Verdrängung macht es psychologisch verständlich, daß er in seiner Rachehandlung ein Auswirkungsventil gefunden hat. - Man kann es begreifen bis zu einem gewissen Grade; aber unsere Lage bleibt nichtsdestoweniger traurig, nein tragisch, im höchsten Grade tragisch!

 

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 11. Oktober 1919.

    Wir waren in arger Aufregung. Bis jetzt stand die Kuh, die Frau Grete aus dem Stalle ihres Bruders entführt hatte, bei uns im Stalle an Stelle der verendeten. Irgendeiner der Banditen ist bei der Entführung Frau Grete gefolgt oder hat es auf andere Weile ausspioniert, daß die Kuh aus dem Stalle des verlassenen Hofes stammt. Nun kam er heute und forderte die Kuh zurück. Frau Grete wandte sich an unsere Einquartierung. Sie möchten doch dafür eintreten, daß die Kuh uns erhalten bliebe, wenn sie künftig hin Milch trinken wollten. Allein, das war zu viel verlangt, daß sie für uns einstehen sollten gegen ihre eigenen Diebsgenossen. Woher die Milch kam, war ihnen gleichgültig, verzichten würden sie nicht darauf. Da sollten wir zusehen.

    Der fremde Reiter nahm also die Kuh und ritt davon. Frau Grete aber gab die Sache nicht auf, denn sie hat eine alte Mutter und zwei Kinder im Hause, die Milch nicht entbehren können. Sie wußte ferner, daß die einquartierten Anarchien nach wie vor Milch verlangen würden. Daher ging Frau Grete dem Räuber nach und begann einen Handel mit ihm. Er solle ihr die Kuh verkaufen, schlug sie vor. Jener verlangte zehn Tausend Rubel. Sie bot ihm tausend, wiewohl sie auch diese Summe nicht bar hatte. Nach langem Feilschen wollte der berittene Bandit, der mit der Kuh nicht rasch fortkommen konnte, sie uns für drei Tausend Rubel zurückgeben. Nun eilte Frau Grete von Haus zu Haus, um diese Summe leihweise zusammenzubringen. Ich hatte irgendwo mein Geld versteckt und wußte nun selbst nicht mehr, an welchem Ort. Ich entsann mich aber, daß es auf dem Boden unter dem Dache sein mußte. Ich stieg leise auf Strümpfen die Treppe hinauf, um es unsere Gäste nicht merken zu lassen. Bald fand ich zum Glück das Versteck und eilte nun auf den Feldweg, wo der Bandit langsam mit der Kuh davonritt. Er hatte den Handel für sich nicht bindend gehalten. Ich bot ihm das Geld; aber er verlangte nun eine größere Summe. Ich hatte Mühe, ihm glaubhaft zu machen, daß die arme Frau kein Geld habe. Dann führte ich die Kuh, so rasch es anging davon und versteckte sie in dem kleinen Stalle.

   Nach einiger Zeit kehrte Frau Grete zurück und war traurig, denn sie hatte die Summe nicht zusammengebracht; jeder ist bis aufs letzte ausgeraubt. Wie froh war sie, als ich ihr erzählte, daß mein Geld ausgereicht hätte.

    Nun haben wir wohl eine Kuh; aber die Hühner haben sie uns weggeholt. Es waren junge Hühnchen, die trotz der kalten Witterung fleißig legten. Die tapferen Helden haben folgendes Verfahren beim Hühnerfang erfunden. Sie hauen mit ihren Säbeln den armen Tieren die Beine ab oder verwunden sie auf andere Art und kommen dann mit ihrem Wildbret zur Wirtin, die ihnen einen Hühnerbraten oft mitten in der Nacht bereiten muß. Aber auf Eier verzichten sie trotzdem nicht!

    Uns regen all diese Dinge fast mehr auf als der Tod der Menschen; denn die Toten sind aller Leiden enthoben. Manch einer beneidet sie. Wir brauchen, solange wir leben, Lebensmittel. Damit geht es aber allenthalben rasch zu Ende. Es wird von Tag zu Tag schwieriger, unsere Peiniger zufriedenzustellen. Je mehr die Frage der Ernährung sich zuspitzt, desto ungehaltener und wilder werden sie. Es ist kaum zu verstehen, daß sie kein Einsehen haben. Sind sie wirklich vertierte Menschen?

    Sie glauben, wir halten noch Lebensmittel versteckt. Wie sollte uns das möglich sein? Sie gehen durch alle Zimmer, schauen in alle Schränke; sie steigen unter das Dach und in den Keller. Holten sie nicht neulich den Rest von Fleisch aus unserem Keller? „Koch uns das, befahlen sie der Wirtin. Frau Grete ist nicht so ängstlich wie die meisten Frauen. Sie erwiderte: „Ich koche euch nicht alles auf einmal. Die Hälfte genügt für heute. Das übrige sollt ihr morgen haben.“

   „Wir denken nie an morgen“, geben jene zurück, „drum bereite uns alles noch heute zu. Koche eine Fleischsuppe und gib uns einen reichen Braten. Das befehlen wir.“ Auf „befehlen“ lag der Ton.

   Einsicht predigt man solchen Leuten vergebens. Frau Grete regt sich auf über diesen Unverstand. Sie begreift nicht, daß so viel Fleisch gegeben werden kann. Ich versuchte es ihr verständlich zu machen. Die reißenden Tiere fressen viel Fleisch, die friedlichen Kühe und Pferde fressen Gras.

   Frau Grete hatte sich nicht geirrt. Am nächsten Tage brauchten die Anarchisten tatsächlich kein Fleisch. Sie haben sich übergessen und liegen und stöhnen. Aber am übernächsten Tage wollen sie wieder einen Braten haben. Es nützt kein Fluchen, Frau Grete kann kein Fleisch beschaffen. Sie sandten dann einige ihrer Komplizen aus; die brachten nach einiger Zeit ein halbes Dutzend Hühnchen. Frau Grete mußte gehorsamst zu ihren Diensten sein und einen Braten daraus machen.

    Vierzehn lange Tage ertragen wir nun schon diese Plage. Die ununterbrochene Erregung macht uns ganz flügellahm, unsere Energie reicht kaum mehr aus, jeden Tag von neuem zu hoffen. Jeden Morgen treten mein Freund, seine Frau und ich zusammen und besprechen unsere Lage. Nach unserer Berechnung können sie sich nicht mehr halten, denn es gibt einfach nichts mehr zu essen. Aber die Anarchisten rechnen anders. Sie schlachten Kühe, die in einigen Wochen kalben sollen. Sie senden Expeditionen in alle deutschen Hofdörfer und holen Brot oder Mehl herbei. — Ja, wir können uns der Erkenntnis nicht verschließen, daß diese Räuber den Hungertod nicht sterben werden, solange es noch irgendwo Brot zu rauben gibt. Wir kommen allerdings sehr bald ans Hungern. Die meisten der unsrigen essen jetzt schon nur noch Kartoffeln. Unsere Körperkraft nimmt ab. Ich merkte es heute, als ich ein paar Birnbäume im Garten umhieb, um sie zu Brennholz zu zerkleinern. Ich mußte oft aussetzen, um auszuruhen.

     Unsere Rettung kann nur durch eine Verschiebung der Kampffront kommen. Jeder anwachsende Kanonendonner und jedes gesteigerte Knattern der Gewehre macht uns Mut zu hoffen. Es ist uns gleichgültig, wohin die Front sich verschiebt, wenn sie nur über uns hinweggeht.

   Jene drüben haben eine bessere Artillerie; aber der Strom ist ein zu großes Hindernis. Es ist nicht leicht, herüber zu kommen und Batjko (Väterchen) Machno ist listig und hat ergebene Leute. Seine Scharen mehren sich tagtäglich. Die Aussicht, nach Belieben zu plündern, lockt viele herbei. Man spricht von hunderttausend Mann. Sicher ist dies ein Gerücht, das übertreibt; aber daß es ihrer viele sind, sehen wir: Drei Schritte vom Haus begegnet man ihnen schon gruppenweise. Es sind bezeichnenderweise fast ausschließlich Bauern. Die Industriearbeiter sind nicht Anarchisten. Sie erkennen eine gewisse Organisation an und halten zu den Bolschewiki oder anderen sozialistischen Parteien. Die bäuerischen Willkür-Anarchisten suchen sich in diesem Aufstand mit Kleidung zu versorgen. Ohne Zweifel sind die Bauern in der Ukraina in großer Not. Die Bauern in Groß-Rußland lebten von je her ärmer und versorgten sich selbst: sie webten Leinwand und nähten sich Kleider daraus. Für den Winter verfertigen sie aus Schaffellen Pelze und flechten Bastschuhe aus Baumrinde. Diese Art sich zu kleiden, war im Norden jedenfalls in einem gewissen Umkreis von Moskau noch üblich. Daher mag es kommen, daß der großrussische Bauer sich ruhiger verhält. Der ukrainische Bauer auf der fruchtbaren Scholle war ein reicheres Leben und bessere Kleidung gewöhnt. Daher entbehrt er jetzt die Fabrikerzeugnisse weit mehr als der Großrusse. Außerdem ist ohne Zweifel der ukrainische Bauer rebellisch geworden durch den ewigen Regierungswechsel. Hat er nicht seit zwei Jahren fast mit jedem Neumond auch eine neue Regierung, die mit dem Mondwechsel wieder verschwindet? Bei ihm kann nicht bald eine Regierung aufkommen, die eine Autorität gewinnt. Es sind gewisse sittliche Begriffe ins Wanken gekommen, die die Voraussetzung einer jeden Staats- und Regierungsform sein müssen.

    Die Massen sind sich ihrer Macht bewußt geworden, nur haben sie nicht gelernt, diese Macht zu gebrauchen als eine Macht der Ordnung und Organisation. Einst jubelten sie den Bolschewiki zu, denn sie erlaubten, vom Land Besitz zu ergreifen. Aber da auch jene eine Organisation durchzuführen versuchten und gar noch auf dem Wege der Diktatur ihre Ordnung durchzudrücken begannen, da wurden sie ernüchtert. Nun warben die ukrainischen Nationalisten und die Anarchisten um sie. Die Weißen wollten ihnen ihren Willen aufdrängen. Machno, der Listige, versteht die Bauern zu gewinnen. Land und Freiheit war die Losung der Bauern von je her. Das Land haben sie in Besitz. Sie denken nicht daran, daß die Willkür auch einen jeden von ihnen fressen kann.

     

 Folge VI 

Chortitza-Rosenthal, am 15. Oktober 1919.

     Gestern belachte ich unsern alten Nachbar. Er ist ein pensionierter Lehrer, der freilich keine Pension mehr bezieht, seit alles drunter und drüber geht. Es ist ein schweres Leben für den alten Mann, der 35 Jahre lang einen schweren Beruf ausgefüllt hat. Nun muß er darben. Sein Haus wird ganz besonders schwer heimgesucht. Wiewohl man vielmals seine Räume durchsucht und alle Pelze und warmen Kleider entwendet hat, begehren sie alle Tage neue Schätze von ihm. Seine Töchter hatten im Garten silberne Löffel vergraben, und seitdem sie gefunden worden sind, läßt man nicht nach, ihn zu quälen mit allen Mitteln. Gestern stellten diese verlotterten Buben mit dem ehrwürdigen Mann wieder ein Verhör an. Er sollte den Versteck von Gutsbesitzern angeben. Er hat tatsächlich keine Ahnung von ihrem Verbleib. Man wollte ihn als Hehler erschießen. Man stellte ihn an die Wand, das Gesicht der Wand zugekehrt. Dann ließ man die Gewehre knacken, ohne zu Schießen. Sie erzeugten in dem Manne eine qualvolle Todesangst, nur um ihn gefügig zu machen. Sie erschossen ihn nicht, aber seine Nerven sind sehr stark mitgenommen. Während der Greis mir sein Erlebnis erzählte und sichtbarlich durch meine Teilnahme Erleichterung fand, begann sich das Haus von neuem zu füllen. Man hatte den Eindruck, daß diese neuen Ankömmlinge wieder etwas im Schilde führten. Mit besonderer Neugierde wurde ich aufs Korn genommen. Ich merkte, daß sie in mir einen Gegner vermuteten. Ich trotzte ihren forschenden Blicken, war aber schließlich doch erstaunt, daß niemand mich in Verhör nahm.

Heute erfuhr ich, daß sie sich nach meinem Fortgang angelegentlich nach mir erkundigt haben. Sie glaubten bestimmt, in mir einen Offizier zu erkennen. Der alte Mann hat ihnen erklärt, daß ich ein Gelehrter war, aber sie haben es wohl nicht geglaubt.

Heute kamen einige wild aussehende Kerle zu uns ins Haus und stellten mich zur Rede. Ich hätte am Vorabend die Beschießung beobachtet: ich wäre vor dem Hause auf- und abgegangen und hätte Ausschau gehalten. Sie wüßten auch, daß ich ein Maschinengewehr versteckt halte.

Ich konnte mich nicht enthalten, zu lachen, denn es klang gar zu ungeheuerlich. Ich gab ihnen zu verstehen, daß ich wohl wüßte, daß ihre Willkür einen Vorwand suchte. „Gewiß,“ sagte ich, „wiewohl ich aus der ganzen Schießerei nicht klug werde, schaue ich doch alle Tage danach aus, ob es nicht eine Wendung gibt, gleichgültig nach welcher Seite hin. Wir wissen gar nicht einmal, wer eure Gegner sind. Für uns ist das Fronleben unerträglich geworden. Ihr müßt begreifen, daß uns dies Sklavenleben an den Rand der Verzweiflung gebracht hat.“

Im übrigen appellierte ich an unsere fremden Hausgenossen. Die wagten weder für mich noch für jene einzutreten. Sie schwiegen. Merkwürdig ist es immerhin, sie haben mich in Ruhe gelassen. Ob es der Einfluß unserer Hausgenossen war, die Ehrfurcht haben vor einem Schriftsteller?

 

 

 

 

Chortitza-Rosenthal, am 17. Oktober 1919.

Wir gehen weiter in den Herbst hinein und wünschen, daß es tüchtig kalt wäre. Zwar wissen wir nicht, womit wir in diesem Winter den Ofen heizen werden; aber unsere Hoffnung gründet sich auf die Hilfe des Frostes. Sobald der Dnjepr erstart und das Eis tragen wird, muß es eine Wendung geben, denn dann können entweder jene herüber oder diese hinüber kommen. Die meisten wünschen im stillen Herzen, jene möchten herüber kommen. Wenn es die Weißen sind, müssten sich auch unsre Jünglinge, die im Selbstschutz waren, wieder einfinden. Rußlands Rettung bringen die Weißen keinesfalls und deshalb könnte ihre Herrschaft auch nur eine vorübergehende Phase sein. Mag kommen, wer will, und wenn es der Teufel ist, so schlimm kann es nicht sein, wie diese Höllenmenschen. So sagen viele. Rette uns, Frost! Dnjepr, erstarre!

Das Thermometer läßt unsere Hoffnung sinken. Der Dnjepr fließt noch.

Bande! Wozu treibt sie uns! Der Ofen muß geheizt werden, und da gilt es Brennstoff zu beschaffen. Auf einem Hofe, der von dem Besitzer verlassen werden mußte, weil er den Zustand nicht mehr ertragen konnte, stehen auf der Tenne Strohhaufen. Von dort her müssen mein Freund und ich in großen Bündeln das Stroh auf dem Buckel heimtragen. Es ist eine gräßliche Arbeit. Die Haufen sind bei Tauwetter von Vieh und Menschen auf der Suche nach trockenem Stroh zerwühlt worden, und nun ist alles hart gefroren. Es ist eine Sträflingsarbeit, sich durch die gefrorenen Strohklumpen mit bloßen Händen durchzuarbeiten und dann mühsam das heizbare Stroh zu zupfen. Von allen Seiten werden Tunnels in den Haufen hineingearbeitet und glaubt man sein Bergwerk ausbeuten zu können, fällt es plötzlich zusammen, weil jemand darüber hinwegging. Von neuem geht man mit blaurotgefrorenen Händen an die undankbare Arbeit. Keuchend schleppen wir heraus und müssen gleich wieder den Gang wiederholen, weil bei dieser Kälte der Ofen ungeheure Mengen Stroh braucht, um Wärme zu geben. Unsere Gäste sitzen währenddem am Ofen und geben Frau Grete knurrend zu willen, daß sie es noch wärmer haben möchten. Und unwillkürlich stutzt man: Welche Wendung hat unsere Weltordnung genommen? Hat man nur deshalb viele arbeitsreiche Jahre auf das Universitätsstudium verwandt, um ungeschlachten Analphabeten den Ofen zu heizen? Glaubten wir denn nicht, daß die unwillenden Massen von uns belehrt sein wollten? Und nun sehen wir: sie wollen unseren Weisheitskram gar nicht. Wer fragt nach Wissenschaft? Sie haben der Weisheit letzten Schluß gefunden. Wir Vertreter der hohen Willenschasten grübeln und — graben wie die Maulwürfe im Stroh. O Tempora, o mores! Aber lernen wir das eine wenigstens, noch ehe wir an die Ursachen und Folgen der Zerstörung Karthagos herangehen, daß wir das Leben nur im Leben kennen lernen. So ist es: sie sind die Herren und wir die Sklaven. So war’s ja schon oft im Laufe der Jahrhunderte. Aber feinfühliger, empfinden wir die Schmach vielleicht doppelt hart. Tatsache bleibt, daß wir innerlich stark entrüstet sind darüber, statt Hüter der Wissenschaft zu sein, nur Pferdekräfte ersetzen zu müssen und Wüstlingen zu dienen. Spartaker, wir greifen nicht zu den Gewehren! Wenn wir edler sind als unsere Peiniger, verwenden wir andere Waffen!

 

 

 

  

Chortitza-Rosenthal, am 19. Oktober 1919.

Seit einiger Zeit schreibe ich meine Notizen in französischer Sprache auf. Es wird immer gefährlicher. Machno hat seine Spitzelabteilungen beauftragt, jeden Träger einer Gegengesinnung schonungslos zu beseitigen. Um ihre Grausamkeit uns gegenüber zu begründen, bringen sie erdachte Geschichten in Umlauf. Heute kam der Kommandant höchst erregt nach Hause — es ist ihr Zuhause mehr denn unseres -- und erzählte mit Schadenfreude, daß im Nachbarorte viele Deutsche aufgeknüpft worden seien.

Ich mußte an mich halten, um nicht voll Entrüstung loszubrechen: Ihr Räuber und Schinder! Ich heuchelte Verständnis dafür, daß auch sie nach Rechtsgefühlen handelten und fragte, warum dies geschehen sei.

Er erzählte, wie wenn er selber an der Richtigkeit seiner Aussage glaubte. Es sei eine feindliche Abteilung unerwartet über die Brücke gekommen, und da hätten die verräterischen Deutschen Partei für jene ergriffen und hätten aus den Häusern auf die Machnowizen geschossen. Der Angriff sei zwar abgeschlagen, aber die Erbitterung der Mannschaft gegen die Deutschen allgemein sei doch durch diesen Vorfall gestiegen. Er teilte mir gewissermaßen im Vertrauen mit, daß es den Kommandanten nur mit größter Mühe gelungen sei, ihre Leute von der Rache an den Deutschen abzuhalten.

Aus Anlaß dieses Gespräches setzte ich mich unter unsere verlausten Peiniger und sprach auf sie ein, denn ich wußte, daß sie mir zuhören würden. Aber vergebens versuchte ich, die Wahrscheinlichkeit seiner Aussage zu entkräften. Es wäre undenkbar, daß die Kolonisten in diesem Kampfe aus der Neutralität herausträten, weil es töricht wäre.

Wohl sei es töricht, parierte er geschickt, aber leider doch der Fall. Es sei ihm von dem Kommandanten, der die Verräter gefaßt und aufgehängt hätte, selbst erzählt worden.

Ich durfte vorsichtshalber nach solchen Beweismitteln keine Verteidigung weiter versuchen. Ich mußte das Thema auf ein anderes Geleise bringen. Ich stellte mich, als ob ich sie für eine politische Partei hielte und Belehrung haben wollte.

„Was verstehen Sie unter Anarchismus?“ begann ich ganz nach Art der Ruhen, die immer weit ausholen und umständlich sind sowohl im Fragen als auch bildlich im Auslegen.

Ein paar zuckten die Achseln; „Das weiß der Teufel, wir wissen’s nicht.“ Der Kommandant aber empfindet mir gegenüber doch eine Blöße und antwortet negativ: „Wie doch! Wir sind Gegner der Weißen, der Offiziere mit den goldenen Tressen, ebenso kämpfen wir gegen die Bolschewiki, die unsere Freiheit verraten haben.“ „Sie verfechten also die Idee der Freiheit“ fragte ich, naiv mich stellend.

„Gewiß!“ antwortet er, es darf keine politische Beherrschung geben.“ „Wie denken Sie sich das?“ — „Linier Batjko Machno kann Ihnen das besser erklären.“ Er holte aus der Tasche ein bedrucktes Blatt hervor, das ihm zu Zigarettenpapier dienen muß, wie ich an den Abrissen sehe und hält es mir hin. Sie können auch nicht gut lesen; ich möchte so gut sein und es ihnen vorlesen. Wie Bauern früherer Zeiten kommen sie mir vor, die sich neugierig und willig um den Vorleser scharen.

Da hieß es denn, daß es keine staatliche Gewalt geben darf. Niemand soll herrschen und beherrscht werden. Jeder lebt nach seiner Einsicht und handelt nach seinem Gewissen. Gemeinden dürfen sich nach Belieben zu Wirtschaftsverbänden zusammentun, im übrigen aber müsse unbeschränkte Freiheit walten.

„Glauben Sie,“ warf ich ein, daß Sie nach diesen Grundsätzen handeln?“

„Ja doch!“ bestätigte einer energisch. „Es gibt bei uns keine Herrscher; wir sind alle gleich!“ — „So?“ ereiferte sich sein Nachbar. „Da unser Kommandant, erlaubt er sich nicht, so klein er ist, uns Befehle zu erteilen? Es sind starke Herrschergelüste, die unsere Kommandanten hegen!“

„Wer hat sie gewählt?“ fragte der Kommandant triumphierend.

„Ach was, gewählt,“ schreit jener. „Wenn wir zur Wahl zusammentreten, schreit dein Freund deinen Namen, so laut er kann, und da er die beste Kehle hat, bist du eben gewählt.“

Nun geht es heiß hin und her. Zum ersten Male bin ich Zeuge, wie die Anarchie auch ihren Zusammenhalt zerfrißt. Ich merke, daß die Organisation, so mangelhaft sie ist, von den absoluten Willkür-Anarchisten lästig empfunden wird. Es ist oft tagelanger Streit unter ihnen, wenn eine Abteilung die andere an der Front ablösen soll, aber endlich müssen sich die Widerstrebenden doch fügen, und das wurmt sie. Es sind primitiv denkende Menschen, die wohl Rechte, aber keine Verpflichtungen anderen gegenüber haben wollen.

     

   Tagebuch aus dem Reich des Totentanzes

Dietrich Neufeld, 1921

Folge VII 

Am 20. Oktober

Unsere Telefonistenabteilung, 8 Mann, ist nun schon seit drei Wochen unausgesetzt bei uns. Sie sind anständiger als andere, so weit man von diesen Menschen von Anstand reden kann. Auch Nichtbauern sind unter ihnen, sogar ein paar verbummelte Studenten.

Nach und nach werden sie in unserem Hause zahm. Wir haben bisher ihre Gelüste, vor allem ihre Freßgier, füllen können, und nun ziehen sie ihre Raubtierkrallen ein. Unser Hof kann sie nicht reizen, denn es ist kein Bauernhof mit Viehställen und Getreidespeichern. Sie leben so in den Tag hinein ohne Bekümmernis. Wenn sie gut essen, wir ihnen die Zimmer gut heizen und der Student auf den Tasten des Klaviers hämmert, dann sind sie sogar aufgelegt, mit den Kindern zu scherzen. Ab und zu überwinden wir uns und setzen uns zu ihnen, und wir sind froh, wenn sie menschlich zu uns sind, wenn wir entdecken, daß sie wohl verkommene, aber doch Menschen mit menschlichen Regungen sind. Wo die Kolonisten sich ihnen mürrisch oder verschlossen zeigen, bleiben sie die Raubtiere, die sie von Anfang waren. Freilich haben wir Glück gehabt; denn unsere Telefonisten haben Schulbildung, und das läßt sie vernünftiger erscheinen. Als gestern ein bewaffneter Kosak in einem geraubten wundervollen Pelze ins Haus kam und konservierten Tomatensaft, Gurken, Schinken und Eier verlangte, und als Frau Grete in Gefahr geriet, weil sie ihn nicht besänftigen konnte, da waren es unsere Telefonisten, die ihn vertrieben.

Den einen unter ihnen nennen sie Iwan. Wir nennen ihn Hans, wenn wir von ihm sprechen. Hans ist merkwürdig schlecht gekleidet, ganz im Gegenteil zu den anderen. Ich fragte ihn einmal, worin das seine Ursache habe. Er möge nicht rauben, gab er zurück. Wie, dachte ich, ist er wirklich der einzige weiße Rabe unter ihnen? Ich fand es bestätigt. Eines Tages sitze ich im Nebenzimmer und höre, wie sie sich über den Hans lustig machen. Wie dumm, in zerrissenen Stiefeln und Kleidern zu gehen, sich nicht einmal einen warmen Mantel zu verschaffen. Er lacht und macht Späße. Seither hat mich der Hans ganz besonders interessiert.

Er sei kein Anarchist, sagte er mir unter vier Augen. Er sei überzeugter Bolschewik. Den Anarchisten habe er sich nur deshalb angeschlossen, weil er in einem Gebiete wohne, wo die Weißen zur Herrschaft gelangt sind, die ihn mobilisieren wollten. Sobald die Anarchisten den Bolschewiki gegenüberständen, wolle er übergehen. Nein, er sei kein Anarchist, wehrte er entschieden ab.

Hans ist gewiß nicht dumm, aber indolent. Er versucht nicht, seine bessere Erkenntnis unter den Kameraden zur Geltung zu bringen.

Innig spricht er von seiner verlassenen Mutter und der Schwester, die Lehrerin ist. Es steckt doch noch Kultur in diesem Menschen. Humor kommt dazu. Es ist nicht satirischer Spott, sondern gutmütiger Humor, den dieser Mensch besitzt. Man muß ihn gern haben. Selbst wir, die wir es beinahe verlernen, können uns manchmal des Lachens nicht erwehren.

Iwan ist grenzenlos nachlässig: die Läuse fressen ihn fast auf; er kratzt sich unaufhörlich, aber es fällt ihm nicht ein, sich zu reinigen. Die Parasiten haben ihn fast blutleer gesogen, aber er läßt sie gewähren. Er lacht nur, wenn wir ihn ermahnen, sich von diesem Ungeziefer zu befreien. Er ist den Läusen nicht bös. Er sagte neulich im Scherz: „Ich würde die Kapitalisten auch nicht töten, wiewohl sie schlimmer sind als die Läuse. Ich möchte ganz gern zu Grunde gehen, wenn nur die Idee des Kommunismus obliegt.“ Ein ganz eigenartiger Bolschewik. So sind die Kommunisten in Rußland sonst nicht; sie wollen herrschen und nicht Märtyrer sein. Dem Hans muß man es glauben, daß er ehrlich ist: denn es ist nicht die Spur Eigennutz an ihm. Wer will einen Stein auf diesen Menschen werfen?

So wie Hans sind die anderen nicht! aber es ist doch eine Gruppe, die sich von den übrigen gesondert hält. Auch Fedja behauptet, die Handlungsweise der Machno-Anarchisten zu verabscheuen. Ungern sei er mitgezogen, denn er habe seine junge Frau zurückgelassen, um die er nun in Sorge sei, weil er schon seit Monaten nichts mehr von ihr gehört habe. Er stammt aus Gulja Polje, dem großen Marktflecken, wo Machno zu Hause ist, und der nun im Volksmunde Machnograd heißt, nach der Analogie von „Petrograd“. Machno begann hier in seiner Zentrale alle, die nicht zu ihm hielten, auszurotten. Wer also sein Leben und sein Eigentum retten wollte, ließ sich von Machno einstellen.

Machno ist ungemein listig und tatkräftig. Er hat 12 Jahre in Sibirien Strafarbeit getan, so wird erzählt, und da ist ein Rachebedürfnis entbunden. Seine Blutgier muß grenzenlos sein. Er zögert nie. Als er mit Grigorjew, einem ebenfalls populären Abenteurer in der Ukraine, verhandelte, schoß er seinen Rivalen einfach nieder. Das war für ihn die einfachste Lösung. Ein Menschenleben gilt ihm gar nichts. Der Kurs des Menschenlebens ist zur Zeit in der Ukraina noch niedriger als in Gross-Russland. Eine ganz eigenartige Reaktion ist es, das dieselben Russen — die Ukrainer sind ja offengestanden nicht nur Slaven, wie die Grossrussen, sondern stehen diesen so nahe, dass man sie von jenen dem Wesen nach nicht unterscheidet — die sonst so gern und so viel unterhandelten, jetzt zum Handeln übergegangen sind. Die Machno-Anarchisten jedenfalls verhandeln nie: ihre stereotype Wendung ist „keine Unterredungen“! Aber vielleicht dürfte man diese Beobachtung nicht verallgemeinern. Nein, denn die weniger verdorbenen Anarchisten können, wenn sie satt und warm sind, stundenlang philosophieren. Das tut der Hans, das tut auch Fedja. Diese beiden werden ganz zahm. Sie haben sich sogar Lektüre erbeten von meinem Freunde und nun lesen sie tagelang in den Werken Turgenews und Lermontoffs.

Der Dicke — so nennen wir einen Bauern, der zur Telefon-Abteilung gehört — hat Freude an einem gut gepflegten Aeußeren. Er trägt sehr gute und stets blanke Stiefel. Sein Anzug ist aus beneidenswert gutem englischen Stoff, den er im Kampfe mit den Weissen, die von den Engländern unterstützt werden, erbeutet hat. Er hat durch den langen Kriegsdienst das plumpbäuerliche Aussehen fast verloren. Meine Freunde vertrauen ihm mehr als den anderen; aber da er sich gänzlich prinzipienlos zur Machno-Bande hält, traue ich ihm nicht sehr. Er behauptet allerdings, dass sein Vater einen grossen Bauernhof besitzt und dass er sein eigenes Pferd mitgebracht hat. Es ist nicht ausgeschlossen. Es sollen viele reiche Bauern dabei sein. Sie bleiben eine Zeit lang bei der Bande, und wenn sie genug geraubt haben, kehren sie mit den geraubten Pferden und Kleidern nach Hause zurück. Andere wollen sich durch den Anschluss an Machno retten. Gestern war ein furchtbar versoffener Kerl mit einer furchtbar versoffenen Trinkerstimme hier. Es soll der Grubenbesitzer K. aus dem Kreise Taganrog sein. — Es gibt regelrechte Fanatiker unter ihnen, die aus Haß gegen die dem ganzen Bauernvolke verhaßten Weißen erbarmungslos wüten. Da wir — wenn auch mit Unrecht — für Anhänger der Weißen gelten, kühlen sie ihr Mütchen an uns. Teilweise allerdings rührt ihre Feindschaft gegen uns noch vom Kriege her und mehr noch von der Zeit der Deutschen Okkupation.

Ich erinnere mich einer Begebenheit im Herbst, die für die Weißen charakteristisch ist und die zur Zeit diesen Bauernaufstand erklärt. Ich kam abends auf der Station N.-K. an und mußte in dem Ort übernachten, weil kein Fuhrmann wagte, nachts über die Steppe zu fahren. Auf der Station waren einige Züge Weißgardisten angekommen, die Ordnung in dem von ihnen besetzten Gebiete schaffen wollten. Im Dorfe brannten mehrere Höfe, die sie zur Strafe angezündet hatten. Als ich das Dorfgasthaus suchte, wurde ich von den Weißgardisten angehalten und ausgeraubt. Als ich darauf drei Offizieren begegnete, meldete ich ihnen den Vorfall. Aber sie gaben mir zur Antwort, daß es bei ihnen nicht anders wäre als in allen Aufstandsarmeen und gingen weiter. Einer blieb etwas zurück und sagte offenherzig: „Wären wir früher dem Volke entgegengekommen, so wäre es nicht so weit mit dem Verfall Rußlands gekommen. Wir haben alle Schuld daran.“ — Ich freute mich über die richtige Erkenntnis, hielt aber das Entgegenkommen in dieser Weise doch für verfehlt. War die Erlaubnis zu plündern, etwa ein Eingeständnis, daß sie den Soldaten nun gestatten wollten, was sie bisher als ihr Vorrecht betrachtet hatten?

Tatsache ist, daß die sittlichen Begriffe vom Stehlen, die ja in Rußland nie so fest standen wie in germanischen und romanischen Ländern — wer hätte nicht schon gehört von der Korruption der Zivil- und Militärbehörden Altrußlands, wie auch von dem Hang zum Stehlen im Volke allgemein? — daß diese Neigung durch die Kriege vor und nach der Revolution zu einer verhängnisvollen Verwilderung geführt hat! Wohin steuert das arme Rußland? Jene Leute in Rußland, die bei der Geburt dieser Ursachen zu diesen Zuständen Pate gestanden haben, wußten nicht die Folgen zu ermessen.

Beginnt man zu philosophieren, sich zu akklimatisieren? Nein, an den Sklavenzustand können sich aufrechte Menschen nicht gewöhnen!

 

 

 

 

 

Am 22. Oktober.

Entsetzlich! Heute war der große Kosak hier; er war schon vor einigen Tagen einmal in unserem Hause. Er kündigte uns heute an, es könne nicht weiter in bisheriger Weise geduldet werden, daß die Einwohnerschaft der deutschen Hofdörfer sich neutral verhielte. Der Kampf sei aufs höchste gestiegen und für sie könne es nur noch gelten: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns! Danach wollten sie handeln. Wir müßten uns entscheiden, ob wir zu ihnen stehen und an ihrer Seite in den Kampf ziehen — oder ob wir zu ihren Gegnern, den Weißen, gezählt werden wollten. Im letzten Falle würden wir bis auf den letzten Mann ausgetilgt werden. Sie führte nicht umsonst die schwarze Fahne, die allen Widersachern Tod bedeutet. —

Das ist’s, was wir in den letzten Tagen wie drohendes Gewitter über unseren Häuptern fühlten. Wie wird es enden ?

 

 

Am 23. Oktober.

Es ist, als ob das Todesurteil ausgesprochen wäre über uns und wir nur noch auf den Henker zu warten hätten. Wer nicht zu apathisch ist, kommt auf Fluchtgedanken. Sie haben uns jedoch angesagt, wer nach dem Dunkelwerden drei Schritte vom Hause entfernt angetroffen wird, soll ohne Warnung erschossen werden. Tatsächlich sieht man so viele bewaffnete Reiter allenthalben, daß jeder Fluchtversuch der sichere Tod wäre. Zudem hat jeder seine Familie. Wohin wollte man fliehen? Man müßte schon über die Grenzen des Reiches kommen können!

 

 

 

Am 24. Oktober.

Ein furchtbares Ereignis hat sich zugetragen. Als Gerücht war es mir bekannt seit zwei Tagen. Ich glaubte dem nicht. Heute habe ich die sichere Bestätigung erhalten. Das Hofdorf Eichfeld - nur 25 Werft von hier entfernt, existiert seit dem 18. Oktober nicht mehr. Am 17. Oktober abends haben Reiterbanden das Dorf umstellt, sich auf die einzelnen Höfe verteilt und die Deutschen so überrascht, daß keiner dem anderen Nachricht geben könnte. Dann haben sie, meist mit kalter Waffe, die ganze männliche Bevölkerung über 15 Jahre niedergemacht: 84 Menschen. Es müssen sich herzbrechende Szenen abgespielt haben, wobei Frauen in der Verzweiflung mit ihren Leibern ihre Männer oder Söhne zu schützen versucht, aber nur ihr Leben eingebüßt haben. Die meisten Witwen sind mit ihren Kindern, viele in Nachtkleidern, barfuß in die Frostnacht hinausgeflohen. Sie haben Zuflucht gesucht in dem vier Werft entfernten deutschen Nachbardorf. Jedoch auch dort sollten sie auch nicht zu Atem kommen. Die gleiche Metzelei begann auch hier. Unerklärlicherweise hat sich das Tragödienspiel nur auf zehn Höfen abgespielt. Dann sind jene Räuber, von denen viele als Bewohner des nächsten ukrainischen Russendorfes erkannt worden sind, wieder abgezogen. Von den vierzig Höfen des verlassenen Dorfes Eichfeld fahren die Russen der Nachbardörfer in großen Transporten alles bewegliche Inventar davon. Auch die Dächer werden abgetragen und weggeschleppt.

Mit Hochspannung warten wir auf unser Verhängnis. Die Spannung übertäubt alle Qualen, die wir sonst tagtäglich ertrugen und die uns so empfindlich peinigten. Noch hat man uns vor die Entscheidung nicht gestellt. Aber daß wir mit Räubern nicht paktieren können, ist sonnenklar.

Morgen kommt das vierte Regiment zurück und das sechste kommt an seiner statt an die Front. Wir kennen jene Helden schon zur Genüge. Da haben sich die rabiatesten Teufel zusammengefunden. Wir zittern. Wir wissen, was geschehen kann.

     

Folge VIII 

Am 26. Oktober.

    Unser Kommandant teilte mir heute mit, daß die Erregung unter den Anarchisten nachgelassen hat. Mag sein, daß ihre Kampflage sich etwas gebessert hat. In den letzten Tagen waren die Telefonisten sehr aufgeregt am Telefon. Heute sprechen sie nicht so viel. — Ich hörte gestern, daß sie sich untereinander darüber unterhielten, ob die Hauptstadt Jekaterinoslaw noch in ihrem Besitz sei oder nicht. Obwohl wir die Ohren spitzen, dürfen wir jedoch nie direkt nach ihrer Kampfeslage fragen, um nicht in den Verdacht zu kommen, daß unser Verhalten nicht mehr neutral ist. Die Haltung der Anarchisten ist uns gegenüber drohend genug. Es gibt eine besondere Inquisitionsabteilung unter ihnen, die sich den Anschein gibt, Gegenspionage zu betreiben. An der Spitze steht der berüchtigte Batjko Prawda. Man nennt ihn die rechte Hand Machnos. Er ist ein Mann von ungewöhnlich kräftiger Konstitution, dem nur die Füße fehlen. Sie sind ihm früher amputiert worden. Er steht und geht auf künstlichen Füßen, die er an seinen kurzen Beinen angebracht hat. Er soll früher Bettler gewesen sein. Jetzt ist er neben Batjko Machno ein Glanzstern unter den Anarchisten, die ihm sogar den Zunamen Batjko (Väterchen) gegeben haben. Er kennt keine Rücksicht und schrickt vor keinem Mittel zurück, Menschen zu quälen. Nicht weit von uns wohnt ein Mann, der Mitinhaber einer Fabrik war. Offenbar vermuten sie bei ihm Geld und da hat Batjko Prawda ein Verhör mit ihm angestellt. Er soll gestehen, wo er Gewehre versteckt hat. Da er keine besitzt, begann man die Inquisition. Man knutete ihn, man entkleidete ihn und setzte ihn auf eine Flamme, dann wieder errichtete man einen Galgen, knüpfte ihn auf, bis er am Verscheiden war und ließ ihn wieder auf die Erde. Quälereien in dieser Richtung gehen noch viel weiter.

    Vor einiger Zeit stäupte man einen Mann P., damit er angebe, wer von den Deutschen Gewehre versteckt halte. Als die Qual unerträglich wurde, hatte der Mann die Schwäche, einige Namen zu nennen, um nur nicht mehr gefoltert zu werden. Darauf nahm man die genannten Männer vor. Es waren zwei meiner Schüler, junge Lehrer. Während drei Tagen hat man sie fast stündlich mit Bleiknuten geschlagen, daß sie schließlich flehentlich ihre Peiniger um die Gnadenkugel baten. Man schickte sie schließlich heim, aber nun liegen sie da und man versicherte mir, daß keine Stelle am ganzen Körper heil geblieben wäre. Man habe die in die Wunden verheilten Kleider nur mit größter Mühe abnehmen können. Jetzt liegen die armen unschuldigen Opfer in ihren Eiterwunden, und man weiß nicht, auf welche Seite man sie schmerzlos betten toll.

   Einen Familienvater, Mühlenbesitzer, haben sie derart mißhandelt, daß er nach zwei Tagen gestorben. — Und diese Inquisitoren waren auch bei uns. Sie gaben vor, mein Freund und ich hielten zwei Ballen Kleidertuch versteckt. Diese ungeheuerliche Behauptung hatte den gleichen Zweck, uns zu quälen. Ich war nicht im Haus, und es wurde nach mir geschickt. Mein Freund aber wandte sich, als man ihn mit den Waffen bedrohte, an unsere Einquartierung, und diese lenkte das Unheil ab. Jene gingen darauf zu unserem alten Nachbarn und durchsuchten dessen Haus und fanden ein Stück Sohlenleder, was zu unserer Zeit mehr wert ist als Geld. Damit hatte es diesmal sein Bewenden. Diese Inquisitoren suchen sich täglich neue Opfer aus.

   Jeder seufzt: Los von diesen Peinigern!

 

 

Am 27. Oktober.

    Ein jeder hat sein besonderes Schicksal. Kaum eine Familie, scheint mir, hat so viel Schicksalschläge erdulden müssen, wie die Familie W. Ich lernte sie kennen schon während unserer Sklavenzeit. Das Haus dieser Familie steht nicht fern ab von uns und ist zu erreichen, ohne daß man auf die Straße zu gehen braucht. Nachdem ich die Familie einmal besucht hatte, wurde ich gebeten, öfters zu kommen. Es ist mir verständlich. Ein jeder hat das Bedürfnis, einmal einen Nicht-Anarchisten zu sehen, um sich aussprechen zu können. Für die Familie W. wurde ich gewissermaßen der Beichtvater. Es sind feinfühlende Menschen und darum leiden sie seelisch mehr als viele andere. Besonders der Vater ist es, der sich innerlich martert. Jedesmal, wenn ich auf einige Minuten hinübergehe,sehe ich an seinen völlig verzehrten Gesichtszügen, wie ungeheuer er darunter leidet, daß er zu schweigen hat, wenn freche Eindringlinge sein Haus betreten, zu schweigen, wenn sie sein Haus einnehmen und die Familie auf zwei kleine Zimmer beschränken, zu schweigen, wenn rohe Gesellen Schränke und Kommoden leeren, zu schweigen, wenn beutegierige Diebe die Taschen nach Uhren, Messer und Geldbeuteln absuchen, wenn sie ihm den Ehering vom Finger ziehen, ja zitternd zu schweigen, wenn die Ehre der Töchter bedroht erscheint. Als es ernst damit wurde, als man seine schöne große Tochter wegholen wollte, da hat er nicht mehr schweigen können, da hat er gesprochen, jedoch nicht so, wie ihm die Gefühle die Ausdrücke eingaben. Er ist mit Aufwand der ganzen Willensenergie der Überlegung gefolgt und hat mit den Mädchenschändern in ruhigem Tone gesprochen, hat ihnen einzureden versucht, daß seine Tochter krank sei und das Bett hüten müsse. Er hat sie versteckt, denn er wußte, daß sie unrettbar verloren gewesen wäre, wenn sie gefunden würde. Und hatte er sie einmal gerettet, so bestand die Gefahr immer noch, so lange sie in unserem Orte blieben. Und sie sind wiederholt gekommen. Die seelische Spannung von einem Besuch bis zum anderen fraß an seinem Mark mehr als der Besuch selbst. Die Nervosität ließ ihn nicht mehr schlafen. Und gelang es endlich einmal nach langem Kampf, sich zu beruhigen, den Schlaf, den einzigen Tröster in dieser Zeit, zu finden, dann kam sicher nächtlicher Besuch, und dann half kein Widerstreben: man mußte die Nachthyänen einlassen. Von neuem krampft das Herz sich zusammen, wie wenn es von Adlerklauen gepackt würde; man sieht fröstelnd vor Kälte und Aufregung die Gesellen ins Haus kommen. Sie wühlen an allen Ecken und Enden und behandeln die Hausbewohner wie Übeltäter, wie Feinde, an denen man sich rächen muß. Und solche Besuche wiederholen sich in mancher Nacht vielmals!

     Dieser Mann empfindet sein Schicksal noch schmerzlicher, weil seine Nerven schwach sind! — Eines Tages platzte ein Geschoß in unmittelbarer Nähe des Hauses. Die Fensterscheiben zerbrachen. Sie mußten durch Bretter oder Kissen ersetzt werden. Dieser Mann klagt mir seinen Gram, und diese Klage ist vielleicht die einzige Rettung für ihn. Es ist ihm ein Trost, wenn jemand ihm mit Verständnis zuhört.

    Daß wir auswandern müssen, wenn wir am Leben bleiben, ist uns selbstverständlich. Wir sprechen viel von Ländern mit geordneten Verhältnissen und besseren sozialen Zuständen und noch besser erzogenen Staatsbürgern. Es klingt wie eine beruhigende Musik, wenn ich von meinen Erfahrungen in fremden Ländern spreche. Dann vergißt er für einen Augenblick sein Leid. Weil ich dies weiß, bringe ich gern das Gespräch auf dieses Thema. Aber jedesmal, wenn ich wiederkomme, finde ich diesen Mann in Verzweiflung. Er kann wie so viele, nicht mehr auf einen guten Ausgang, auf bessre Zeiten hoffen. Das Nicht-mehr-hoffen-können ist das Fürchterlichste, was ein Mensch erleiden kann.

    Unser Schicksal hat kein Erbarmen mit uns. Gestern besuchte ich die Familie W. und fand sie apathisch. Man überreichte mir einen Brief, den ihnen ein Verwandter auf einem Schleichwege zugestellt hat. Er lautete so: „Liebe Geschwister! Mit versteinertem Herzen und verwirrten Gefühlen schreiben wir Euch dies. Sie kamen zu uns ins Haus. Sie zogen uns aus bis auf die Unterkleider und begannen ihr grausames Spiel mit uns. Sie schossen unserm alten Vater durch beide Handflächen und zwangen ihn dann, sich mit ihnen an den Tisch zu setzen und Branntwein zu trinken. Er sollte anstoßen mit ihnen. Vater sah uns mit einem Blick an, der ein tiefes Weh widerspiegelte und uns in die Seele schnitt. Wir standen da in stummer Qual und ließen uns verhöhnen. Aber nicht genug damit. Bruder Johann schlugen sie mit schartigen Säbeln ins Gesicht und versuchten, ihm die Arme abzuhauen. Er floh und später fanden wir ihn in der Spreu liegen. Sie, die wir nicht zu benennen vermögen, weil kein Wort ausreicht, sie zu bezeichnen, sie haben sich geweidet daran, wenn sie dem Sterbenden die Qual vermehrten, indem sie Spreu in seine Wunden streuten. Unser jüngster Bruder versuchte, sie durch energisches Auftreten einzuschüchtern; aber sie schossen und hackten ihn nieder. Unsern Neffen Franz schlugen sie mit Knuten und stumpfen Gegenständen, bis er bewußtlos niederbrach und nicht wieder erwachte. Heinrich versuchte mit Frau und Kind zu fliehen; aber ihn fanden wir später tot im Vorgarten. Auch wir sind verwundet: mein linkes Ohr ist zur Hälfte ab, an der Stirn habe ich tiefe Wunden, auch die Handtrage ich verbunden. Ein Hemd dient als Verbandsstoff. Wir haben unsern Wohnort verlassen und halten uns bei Freunden im Nachbarort versteckt. Wir nennen keine Namen, weil es ungewiß ist, ob dieser Brief nicht in Unrechte Hände gelangt. Unser Haus soll inzwischen eingeäschert worden sein. So hört auch Petersdorf auf zu existieren. Von Eurem Ort meldet man hier auch Schreckliches. Ob Ihr noch alle am Leben leid?

    Ihr Lieben, wenn wir uns noch einmal sehen sollten in diesem Leben, dann wollen wir uns an den Händen fallen und ohne Umsehen das Land unserer Schmach für immer verlassen.

   Ich ließ das Blatt auf den Tisch fallen und sah auf. Verzweiflung! Was sollte ich sagen? Worte kamen mir zu unbedeutend vor gegenüber solchen Wuchtschlägen; man protestiert auch nicht mit Worten gegen so elementare Erscheinungen wie Blitz und Donnerschlag. Stumm drückte ich ihnen die Hand und entfernte mich.

    Den ganzen Tag beschäftigte mich heute das Schicksal dieser Familie. Ich begreife, daß diese Menschen, die bibelfeste Christen sind, verzagt rufen: Lebt unser Gott? Es ist zuviel! *— Wer nicht erlebt hat, was wir erleben, wird nie begreifen, was wir ertragen.

 

 

 

Am 30. Oktober.

    Keine Rettung in Sicht! Vertiefung des Elends! Typhuskrank liegen Anarchisten in den Häusern. Wen wundert es, wenn diese Menschen, die keine Gesundheitspflege kennen, krank werden. Aber auch wir sind rettungslos dieser ansteckenden Krankheit preisgegeben. Wir haben weder Seife noch Wäsche zum Wechseln. Selbst Kämme und Rasiermesser fehlen uns. Wir sehen aus wie Barbaren mit struppigem Haar und ungepflegtem Bart. Ich besitze zwar noch einen Rasierapparat im Versteck, aber ich darf ihn nicht mehr gebrauchen, denn so bald sie merken, dass ich rasiert bin, würden sie das Messer von mir verlangen.

    Auch in unterem Hause liegen drei Mann krank darnieder. Frau Grete nimmt sich der Kranken an in warmer Nächstenliebe: sie denkt nicht daran, daß es unsere Peiniger sind, sondern pflegt die Hilflosen mit aufrichtiger Besorgnis. Wenn sie in irgendeiner Kellerecke noch etwas hatte verborgen halten können, jetzt gibt sie es her: das Letzte an eingemachten Kirschen setzt sie ihnen vor. Sie kocht den dürftigen Kranken Tee, so oft sie wollen, obgleich sie vor Abmattung fast zusammenbricht. Während der Dicke alles wie selbstverständlich annimmt, regt sich bei Fedja eine tiefe Dankbarkeit. Er fühlt, daß er die Krankheit überstanden hat. Zum Zeichen seiner Dankbarkeit schenkt er ihr einen Hundertrubelschein. Sie habe ihn vom Tode errettet, ohne diese Pflege wäre er umgekommen.

 

 

 

Am 5. November.

    Ein neuer erbarmungsloser Feind! Wir sind verloren ! Der schwarze Tod geht um. Erbarmungslos faßt er zu. Zuerst erkrankten die Anarchisten. Sie lagen iu allen Häusern herum, und die einheimische Bevölkerung pflegte sie. Nun ist der Funke auch zu uns übergesprungen: Flecktyphus! Ich sprach mit dem Arzt H. Er bestätigte, daß es in den meisten Fällen Flecktyphus sei, in den übrigen sei es der Rückfalltyphus. Die Krankheit der letzten Art läßt ihren Opfern nach etwa einer Woche eine Pause von einigen Tagen. Das Fieber weicht, die Kranken glauben sich gesund und beginnen zu essen. Dann aber setzt das Fieber in verstärktem Maße ein. Es ist, wie wenn die Katze mit der Maus spielt. Wenn die Maus sich freigegeben glaubt, springt der grausame Peiniger von neuem zu und würgt das hilflose Tierchen.

    Es gibt für uns kein Entrinnen, denn auch die Aerzte wissen unter den obwaltenden Umständen kein Mittel, uns zu schützen. Absonderung der Erkrankten wäre die einzig mögliche Rettung, aber diese Maßnahme ist gänzlich unmöglich. Die Anarchisten, auch die Kranken, lassen sich nicht aus den Häusern wegtragen. Man hat es versucht. Zur Zeit ist es schon zu spät. Es sind ihrer zu viele.

   Von zwei Aerzten liegt der eine schon krank darnieder. In der Apotheke gibt es keine Arznei mehr. Schmerzlich ist die Erkenntnis, daß wir alle denselben Schicksal entgegengehen. Früher oder später muß jeder daran glauben.

    Vorgestern starb einer meiner Kollegen und eine meiner Schülerinnen, eine achtzehnjährige Seminaristin. Nur wenige Menschen begleiteten die beiden Särge auf den Friedhof. Als wir die Gräber zuschütteten, merkten wir, wie kraftlos wir schon sind.  Wir konnten es fast nicht schaffen.

   Das große Leid ist nun in jedem Hause. Von den 6000 Einwohnern unseres Ortes hat jeder mit den Kranken zu tun.

   Außer den Anarchisten sind bei uns schon erkrankt das kleine Töchterchen meines Freundes und die Großmutter. Bewußtlos liegen die Elenden da im höchsten Fieber, und wir können ihnen nicht helfen! Nicht einmal den Arzt können wir zur Beruhigung herbeiholen. Der eine Arzt, der noch aufrecht ist, geht von Bett zu Bett und ist bereits so erschöpft, daß seine Erkrankung jeden Augenblick eintreten muß.

 

     

Folge IX 

Am 13. November

     Nun ist kein Arzt mehr zu holen. Beide sind gefährlich krank und man fürchtet, daß sie nicht mehr aufkommen. Außer Frau Grete und mir sind jetzt alle krank bei uns. Ich muß zusehen, daß ich morgens und abends den Ofen heizen kann. Ich fälle bereits Gartenbäume. Es ist kein anderes Holz vorhanden Frau Grete plagt sich mit den Kranken ab. Tag und Nacht müssen wir bei ihnen sein. Nachts ist es noch schlimmer als am Tage. Einer allein kann nicht mit den Kranken fertig werden. Und doch können wir ihnen kaum helfen. Die einzige Linderung, die ihnen gebracht werden kann, besteht darin, daß wir ihnen die heiße Stirn kühlen und Wasser zu trinken geben. Oft haben wir allergrößte Mühe, die bewußtlos Phantasierenden zu beruhigen. Man kommt sich vor wie in einem Irrenhause. Während ich am Bette sitze und  schreibe, entreißt mir plötzlich das vierzehnjährige Mädchen das Blatt und will lesen, ob ich nach Deutschland geschrieben habe, damit sie uns von dort Flugzeuge schicken, die uns von hier wegholen. Ihr Wunsch kindlicher Art kommt da zum Vorschein. Dann wieder fragt sie mich, ob die Meerfrau Zucker gebracht habe. Sie möchte den Tee mit Zucker gesüßt trinken.

     Dann springt plötzlich mein Freund, von seinem Lager und gibt erregt vor, er müsse seiner Frau beistehen, die draußen von diesen. . .  (wir benennen die Anarchisten gewöhnlich nicht) bedroht werde. Ich beruhige ihn. — Ich ging heute am Tage für ein halbes Stündchen fort. Ich mußte sehen, wie es in den Nachbarhäusern aussieht, ob es denn überall so zugehe wie bei uns. Überall dasselbe Bild. Die Gesunden gehen wie Schatten einher. Die Anarchisten fangen an, die Kranken wegzubringen in die benachbarten Ortschaften. Die Gesunden verlangen aber unentwegt unseren Sklavendienst wie ehedem, unbekümmert darum, ob wir unsere Kranken pflegen können oder nicht. Sie sind die Herren und ihrer Willkürlaune haben wir widerstandslos zu folgen. Wir sind kaum noch fähig, uns moralisch zu widersetzen.

      Die Schulhäuser sind Krankenhäuser der Anarchisten geworden. Deutsche junge Männer und Mädchen — darunter in erster Linie unsere Seminaristen, soweit sie noch nicht erkrankt sind — müssen sie pflegen. Weil die Zahl der Gesunden in unserem Ort zu gering ist, holen sie Pfleger aus den benachbarten Ortschaften herbei. Sobald sie angesteckt sind, kehren sie in ihre Dörfer zurück, und so greift auch dort die ansteckende Krankheit um sich.

 

 

Am ?

     Das große Sterben nimmt erschreckend zu. Ich konnte viele Tage nicht mehr Notizen machen. Tag und Nacht kommen wir nicht zur Ruhe. Meines Freundes Zustand ist höchst bedenklich. Seit ein paar Tagen kehrt seine Besinnung kaum mehr zurück.

    Es ist kalt und dunkel um uns herum. Witterung und Jahreszeit verstärken die Trostlosigkeit des Tages. Um 3 Uhr wird es schon dunkel, und bis 9 Uhr morgens währt die Finsternis. Bis vor ein paar Tagen hatten wir kein Licht; kein Steinöl, nur eine rauchige Funzel mit Sonnenblumenöl, mit dem wir äußerst sparsam umgehen mußten. Nun hat uns ein Kollege ein paar Tropfen Steinöl gebracht, das wir nun ganz sparsam brennen. Wir haben diese Kostbarkeit in eine kleine Lampe gegossen und schrauben den winzigen Docht so herab, daß die Flamme nur noch wie ein fernes Irrlicht flackert. Ohne Licht sind die Kinder in der langen Nacht nicht zu beruhigen.

    Unsere Einquartierung, deren Zusammensetzung sich verändert hat, weil einige Erkrankte fortgekommen und andere hinzugekommen sind, hat unser Flämmchen in der Nacht entdeckt und forderte heute die Flamme für ihren Gebrauch. Es gelang Frau Grete nicht, sie zu beruhigen. Da packte mich heftig der Unwille gegen diese Unmenschen. Ich trat vor sie hin mit festem Tritt und fuhr sie an. Ich ließ sie nicht zur Besinnung kommen, sondern nützte ihre Bestürzung mit raschen, treffenden Worten so aus daß sie kein Wort erwidern konnten. Sie lagen da im Finstern, daß man fast vermuten konnte, sie wären durch einen Zauber verschwunden. Das Licht behielten wir.

 

  

Am ?

     Die Kranken phantasieren von Neu-Seeland, dem Land ihrer Sehnsucht. Wer die Hoffnung noch hat, am Leben zu bleiben, denkt nur noch an Auswanderung. Aber die meisten wandern aus nach dem Friedhof. Draußen vor unserm Fenster bringt man täglich Särge vorbei! Särge? Nein, es gibt keine Särge mehr. Man begräbt die Toten ohne Särge, entweder in Trögen oder Schlafbänken oder gänzlich bloß. Auch das Begraben ist schwierig: es gibt kaum noch Menschen, die Gräber graben. Diejenigen, die bei Kräften sind, lassen sich die Arbeit übermäßig teuer bezahlen. Darum bleiben viele Gräber offen.

    Im Nachbarhause starb gestern der alte, viel geplagte pensonierte Lehrer. Alle übrigen acht Personen liegen krank darnieder. Man rief mich um Hilfe, um den Toten aus dem Krankenzimmer zu schaffen.

Jetzt kein Mann mehr in dem Hause, nur Frauen, und diese alle krank. Fremde pflegen sie und bedienen die einquartierten Anarchisten.

 

  

Am 13. Dezember.

    Es ist ein sonniger Frosttag. Wir hörten früh am Morgen Dröhnen von Geschützen und horchten auf: sollte es eine Wendung gehen? Trägt das Eis vielleicht? Unsere Telefonisten sprachen aufgeregt am Fernsprecher. Aber dann verstummten die Geschütze, und nur das Knattern der Gewehre war vernehmbar wie vorher.

    Als am Nachmittag die Kranken etwas ruhiger zu werden scheinen, entschließe ich mich zu einem Rundgang durch die Nachbarhäuser. Ich suche gleichzeitig etwas Aufmunterung für mich selbst, denn stumpf und schwer fühle ich die Last des Leides.

    Aber niemand ist da, der Trost weiß. Die Gesichter nehmen nach und nach einen verfeinerten Ausdruck an. Man läßt an sich herankommen, was will. Wohl zuckt die Wimper im Schmerz, und Wehmut legt sich um den Mund; aber Hoffnung gibt es nicht mehr. Menschen sterben hier wie die Fliegen nach einem Gifttrunk. Am ehesten erliegen die Menschen, die seelisch am stärksten gelitten haben, vor allem die Eltern. Am sichersten kommen die Kinder durch und junge kräftige! Menschen. Menschen mit schwachem Herzen sind sichere Todeskandidaten. Unvergeßlich bleibt mir das Bild im Hause M. Ich trete ins Haus. Es rührt sich kein Mensch. Selbst die Anarchien fehlen. Ich schritt durch leere, schmutzige, verlassene und kalte Zimmer. Ich vergegenwärtige mir einen Augenblick, wie stolz und reich dieser Bauernhof einst aussah. Und jetzt?

    Ich öffne eine Tür und — da liegen sie alle: der Hofbesitzer, seine Frau und seine sieben Kinder. Auf Stroh sind sie gebettet und mangelhaft zugedeckt.Niemand hat den Ofen geheizt. Darum waren auch die Anarchien weggegangen. Ich überlebe die Reihe der Kranken und nähere mich dann dem jüngsten Kinde. Ich fasse sein Händchen an. Es ist kalt; eiskalt ist auch das kleine Gesicht. Nun begreife ich: es ist tot. Vermutlich ist es bewußtlos vom Stroh auf den kalten Fußboden gerollt, und da hat der Frost dem kranken Kinde den Gnadenstoß gegeben. Leise teile ich es den Eltern mit. Mit angstverstörtem Gesicht müht sich die Mutter krampfhaft, sich aufzurichten, um ihr totes Kind zu sehen. Es will ihr nicht gelingen. Ich richte sie auf. Sie beginnt zu phantasieren, und da lege ich sie wieder zurück ins Stroh.

    Dann gehe ich Hilfe zu suchen für Menschen, die dem Tode geweiht scheinen. Zwei Jungfrauen, Waisen, die in vielen Fällen die Pflege übernommen haben, sollen nun auch diese Familie pflegen.

    Leute, die am Friedhof vorbeigekommen sind, behaupten, daß es dort keinen Platz mehr gibt. Und die Zahl der Toten wächst täglich.

 

 

 

Am 17. Dezember.

    Was wir kaum mehr zu hoffen wagten, es scheint sich zu erfüllen: die Anarchisten rüsten zum Abzug. Wie ein Lichtstrahl in dunkler Nacht weckt uns das aus der Versteinerung. Und dann: dann bleibt zurück Not und Tod, Leere. Was sie uns genommen, kann niemand ersetzen.

    Ich fühle mich nicht wohl. schon gestern hatte ich Temperaturerhöhung, heute war die Temperatur auf 38,2 Grad gestiegen. Was soll werden, wenn auch ich unfähig werde zu helfen. Frau Grete hält sich auch nicht mehr lange. Sie sieht so verdächtig abgehärmt aus. Ich glaube, sie will nicht wahr haben, daß sie krank ist. Ich darf ihr nicht nachstehen. Ich bleibe, bis ich umfalle, das ist mein Gelübde.

    O diese Kerle! Heute kamen drei unheimliche Gesellen in hohen, zottigen Mützen, gehüllt in kostbare Pelze, und stellten ein Verhör mit mir an. Ich konspiriere gegen sie, ich organisiere gegen sie. Sie wollen beobachtet haben, daß Männer zu mir kommen und ich selber von Zeit zu Zeit ausgehe und Besuche mache. Ich soll mein verstecktes Maschinengewehr herausgeben. Ich gab ihnen zu verstehen, daß ich aus all diesem nur einen Vorwand für ihre geplante Willkür erkannte. Wir kennen bereits die Methoden dieser „Helden“, die Wehrlosen gegenüber ungemein tapfer sind.  Mich erregte nicht der Gedanke an den Tod, aber mich schreckte die Vorstellung von vorhergehenden Foltern. Haben sie doch unlängst Frau Gretes Bruder mit Bleiknuten so geschlagen, daß er hilflos in seinem Blute liegen blieb.

    Ich berief mich auf unsere Einquartierung, und diese wagte nichts Ungünstiges über mich auszusagen. „Also,“ schloß ich kurz, „habe ich euch nicht weiter Rede zu stehen“ und ging ruhig meiner Wege. Was sie untereinander noch besprochen haben, weiß ich nicht, aber die drei verließen das Haus.

    Die Kranken hat das Auftreten der rohen Gesellen stark erregt. Ihr Zustand hat sich verschlimmert.

  

 

Am 18. Dezember.

    Meine Temperatur ist auf 39 Grad gestiegen. An meine Erkrankung muß ich glauben. Es war eine böse Nacht. Ich konnte nicht aufrecht bleiben. Aber es gab keinen Platz für ein Lager für mich in dem einzigen Zimmer. Ich mußte mich schon in Fragebogenform krümmen und die Füße unter das Bettgestell meines Freundes stecken. Ihn mußte ich ja bedienen: er warf fortwährend seine Decke von sich. Frau Grete behauptet, ich hätte französisch gesprochen. Sollte ich im Fieber gesprochen haben? Übel genug war mir zu Mute. Mag sein was will, eins ist gewiß die Anarchisten flüchten.

    Sie haben beim Abschied für Dienst und Pflege kein dankbares Wort für uns, nein! Wahrhaft teuflisch betragen sie sich. Statt an ihren Gegnern, denen sie weichen müssen, rächen sie sich an uns. Sie laufen durch alle Zimmer und suchen, was sie noch mitnehmen können. Dabei schonen sie in keiner Weise die Kranken. Meinem kranken Freunde hielt einer die Pistole vor die Brust, damit er angebe, wo er sein Geld hätte. Andere bedrängten Frau Grete roh, daß ich für ihr Leben fürchtete. Ich ging ihnen nach bei ihrem Rundgang durch das Haus. Sonderbar, niemand vergriff sich an Sachen, die ich als die meinen bezeichnete. Nur einen Pelz nahmen sie mit, den ich auf dem Boden versteckt gehalten hatte.

    Mögen sie uns nackt zurücklassen, wenn sie nur nicht wiederkommen!

    Und doch — was beginnen? Die Pestilenz haben sie uns ins Haus gebracht, und nun können wir uns hinlegen und sterben.

    Mich fröstelt’s! ich will rasch einen Zettel an einen Bekannten schreiben, von dem ich vermute, daß er noch gesund ist. Wenn er noch lebt, kommt er uns zu Hilfe.

 

 

Am 2. Februar 1920.

    Ich liege in einem andern Hause. Die Krankheit ist überwunden. Zwar bin ich schwach, aber ich kann bereits im Bett sitzen und meine Aufzeichnungen fortsetzen.

    Wie weit liegt die Zeit meiner Erkrankung zurück. Es deucht mir eine Ewigkeit.

    Allein die Erinnerung ist mir geblieben, und die will ich aufs Papier bannen.

    An jenem denkwürdigen Abend, als die Anarchisten unser Haus dort oben verlassen hatten, wurde nach langer Zeit unsere Haustür wieder für die Nacht abgeschlossen. Wir waren allein im Haus und fühlten uns geborgen.

    Aber die Krankheit nahm immer mehr von mir Besitz. Ich maß die Temperatur: ich hatte 40,1 Grad. Ich lag wieder wie in der Nacht vorher auf dem Fußboden und konnte vor Raummangel die Füße nicht ausstrecken. In dem versauten, verlassenen Raum nebenan wollte ich nicht liegen. Der Geist jener losen Buben spukte noch in den Zimmern herum, d. h. die Erinnerung an sie wirkte beim Anblick der von ihnen benutzten Gegenstände zu stark und niederdrückend. Alle übrigen Zimmer waren in wüster Unordnung und konnten auch aus Mangel an Feuerungsmaterial nicht geheizt werden. Zudem war meine Gegenwart im Krankenzimmer immer notwendig.

    Frau Grete konnte nach Mitternacht auch nicht mehr aufstehen, wenn eins der Kinder unruhig wurde oder sie anrief. Nun lagen wir alle krank: mein Freund, seine Frau und beide Kinder, die Großmutter und eine 15jährige Schülerin, deren Eltern weitab jenseits vom Dnjepr wohnten.

    Das Zimmer mußte rasch abkühlen, denn keiner besorgte den Ofen. In mir aber stieg die Glut. Ich hatte die Vorstellung, alles im Kopf löse sich auf in kleine Moleküle, die in wildem, rasendem, immer sich steigerndem Tempo herumwirbelten. Damit sie mir den Schädel nicht sprengten, machte ich kalte Umschläge auf die Stirn. Es war entsetzlich heiß. Mit aller Kraft wollte ich die Besinnung behalten, weil ich die Verantwortung für alle fühlte. Wie viel angenehmer wäre es gewesen, sich süßem Vergehen hinzugeben. Der Flecktyphus raubt seinen Opfern sehr bald die Besinnung. Es ist insofern eine humane Krankheit. Langverschobene Erinnerungen tauchten auf. Ganz lebendig war die Erinnerung an Gedichte Koltzows und Puschkins. Wahrscheinlich habe ich sie hergesagt.

    Es war eine furchtbare Nacht! Frau Grete höhnte. Mein Freund kam überhaupt nicht mehr zur Besinnung und warf im Delirium fortwährend die Decke von sich. Wieviel Anstrengung kostete es, mich aufzurichten und den bewußtlos Daliegenden zu bedecken! Die 14jährige Tochter wollte umgebettet werden, die Schülerin rief beständig nach Wasser und die kleine bereits Genesende bettelte um Brot. Nach dem Typhus haben die Menschen einen unstillbaren Hunger. Die Nöte der anderen ließen mich meinen eigenen Zustand etwas vergessen. Als der Morgen graute, umfing mich die Müdigkeit so stark, daß ich Lust hatte, mich der süßen Bewußtlosigkeit hinzugeben; aber plötzlich trat das Verantwortlichkeitsgefühl wieder vor meine Seele, daß ich über meine Schwäche heftig erschrak. Ich kam mir vor wie der Kapitän auf einem untergehenden Schiff, der bis zuletzt auf seinem Posten bleibt.

    Ich kann nicht weiterschreiben; ich bin zu schwach.

Am 4. Februar.

    Gestern hatte ich einen kleinen Rückfall. Die Erinnerung regt auf und tut weh. Heute ist mir wieder bedeutend besser. — Ich habe einen unstillbaren Hunger, aber die Leute haben selber nichts zu essen. Außer den drei Kranken sind alle übrigen Genesende und wir haben Mühe, uns vom quälenden Hunger nicht ganz beherrschen zu lassen. So geht’s im Nachbarhaus und im ganzen Ort. Die russischen Nachbarn fühlen sich nicht veranlaßt, den ausgeplünderten Kolonisten Hilfe zu bringen. Allerdings gibt es rühmliche Ausnahmen. — Ich habe etwas geruht und schreibe weiter. Ich gehe zurück in der Erinnerung. Nach jener fast endlosen Nacht kam trostlos der Morgen. Es wurde Tag im Raum, die Uhr schlug neun und niemand sah nach uns. Das Zimmer war kalt, die Fenster waren dicht befroren; aber niemand war da, der den Ofen heizte.

    Da fiel mir plötzlich ein, daß die Haupttür verschlossen war, und deshalb niemand zu uns hereinkommen konnte. Wohl mehr als dreimal versuchte ich vergebens, aufzustehen, die Gegenstände schienen sich im Raume unsicher zu drehen. Aber Einsicht und Ueberlegung riefen den Willen an und der zwang die Leibeskräfte zum Äußersten. Es gelang mir, mich notdürftig anzukleiden. Dann tastete ich wie im Taumel an der Wand hinaus. Mit linkischem Griff — meine Erinnerung malt mir meine schwankende Gestalt an die Tür — drehte ich den Schlüssel um und gab der Tür einen Stoß. Die kalte Außenluft ließ mich erschauern. Ich weiß noch genau, wie mir zumute war, als sei ich ein Fremder, mir selber fremd. Kaum überlegend, tastete ich am Zaun entlang bis zum Nachbarhaus. Ich fragte, ob jemand zu Hilfe kommen könnte. Auch hier war alles krank. Nur ein junges Mädchen hielt sich aufrecht. Sie hatte als erste die Krankheit überstanden und sah noch sehr bleich aus. Sie wollte kommen, wenn ihre Familie versorgt war. Ich verstand, daß sie mehr versprach, als sie halten konnte und verließ schweigend das Haus, um gleich daneben einzukehren. Zwei Männer hantierten in der Küche: sie waren in ihrem Hause die Ubriggebliebenen. Sie erschraken, als sie meiner ansichtig wurden. Offenbar sah ich einem Gesunden wenig ähnlich. Einer beschloß, sofort mit mir zu gehen. Er führte mich. Als er den Ofen heizen wollte, fand er weder Brennmaterial noch Zündhölzchen. Kurz entschlossen brach er zwei Staketen vom Zaun und holte von Haus zwei kostbare Streichhölzchen. Mehr konnten sie nicht entbehren.

    Gegen Mittag kam mein Kollege, dem ich geschrieben hatte und brachte mich in das Haus seiner Schwester, wo noch ein leeres Bett war. Seither liege ich nun in diesem Hause, hart an der großen Straße.

    Oben aber in dem Häuschen, wo ich früher wohnte, ist der Tod eingekehrt; er hat Mann und Frau geholt. Mein Freund und Frau Grete sind nicht mehr. Verwaist sind die Kinder bei der hilflosen Großmutter zurückgeblieben.

   Und gerade meinen Freund hätte ich nicht Kerben lassen, wenn ich über Tod und Leben zu verfügen hätte. Er schien mir unersetzlich. Eine Künstlernatur durch und durch; ein Lehrer, wie wir sie selten hatten, verband er es, der Jugend die Augen für das Schöne zu öffnen; er lehrte sie leben und ästhetisch empfinden und half den jungen Menschen geschickt die Gegenstände der ästhetischen Empfindung mit Hilfe der Zeichen-, Mal- und Klebekunst festzuhalten, so wie sie in einem günstigen Augenblick gesehen und empfunden waren.

    Auf ihm ruhte die Hoffnung der wenigen Hochgebildeten, die den Glauben hatten, daß sich durch ihn die realistisch-materialistische Denk- und Handelsweise der Deutschen Kolonisten in Rußland allmählich zu einem Kunstverständnis und geistigen Kunstbedürfnis heranbilden würde. Mag sein, daß diese Hoffnung kühn war; aber eines bleibt bestehen: die Frucht seiner bisherigen Arbeit ist das erwachende Kunstbedürfnis unserer Jugend. — Den Mann brauchen wir. Wir müssen ihn zurückhaben! müssen wir? Was ist’s mit unsrer Zukunft? Wer lebt denn noch? Liegen wir nicht noch alle in den Klauen des Todes?

    Und doch! Wer lebt, muß hoffen! Ich will kühn wie ehemals den Glauben an unsere Zukunft festhalten. Freund, ruhe sanft! Dein Geist starb nicht mit dir! Erbärmlich ist’s, zu jammern und zu klagen! Wir wollen. . .  O weh, die Stiche! 

   Nachmittag. Die Aufregung tat mir weh. Ich fiel in die Kissen zurück. Und doch ist es ein unabwendbares Bedürfnis für mich, die Erlebnisse, die bohrenden Gedanken und starken Gefühle auszusprechen oder niederzuschreiben. Meine kleine Freundin, die mich während meiner Krankheit so treu und oft besuchte, ist wohl krank geworden. Sie kommt nicht mehr, Ich sehne mich nach ihr. Ihr reger Geist, ihr verständnisinniger Blick, ihr redliches, keusches Gemüt — das fehlt mir. Darum muß ich schreiben.

    Der Flecktyphus ist eine heimtückische Krankheit. Immer die entsetzlich hohe Fiebertemperatur! Allerlei Wahnvorstellungen gehen einem durch den Kopf. Die langen, dunklen, schlaflosen Nächte! Wer kann die vergessen? Mir graute jedesmal, wenn gegen drei die Nacht auf mich herab fiel. Hätte ich ich schlafen können oder wäre ich besinnungslos geworden, wie so viele andere, die Zeit wäre nicht so endlos geworden. Oft lag ich da und fand mich nicht zurecht. Bald schien mir die eine Hälfte des eigenen Leibes nicht mehr zu gehören; sie war mir lästig. Dann wieder befremdeten mich die Beine, der ganze Unterleib bis herauf zur Brust, er gehörte gleichsam nicht zu mir, und das beengte und quälte.

    Aehnliche Empfindungen hatten andere Kranke auch.

     

 Tagebuch aus dem Reich des Totentanzes

Dietrich Neufeld, 1921

Folge

Am 5. Februar.

    Nun frage ich mich: war die Krankheit das Schlimmste, was uns in den letzten Monaten betraf? Kaum!

    Wenn ich höre: heute brachte man 20 Särge an unserem Hause vorbei, und gestern waren es 12 — so regt mich das nicht so auf wie das Gerücht: Sie kommen wieder, die Anarchisten! Die Gerüchte haben so viel Wahrscheinlichkeit. Sie kamen wirklich wieder. Dreimal kehrten sie wieder. Warum nicht auch ein viertes Mal!

    Zum letztenmal zogen sie um Weihnachten und Neujahr plündernd und raubend durch die deutschen Kolonistendörfer. Die drei Industrieortschaften kamen wieder am schlechtesten weg. Diesmal wurden die Anarchisten nicht von den Weißen, sondern von den Roten, den großrussischen Bolschewiki, getrieben. Ich erinnere mich noch ganz deutlich jenes schrecklichen Abends, als es uns am schrecklichsten ging. Es war der Heilige Abend vor Weihnachten, wenn sonst in diesen Häusern der Tannenbaum zu brennen pflegt.

    Weihnachtsstimmung — wo war sie?! Wir lagen alle auf dem Krankenlager. Eine Verwandte, ein 20 jähriges, opferfreudiges Mädchen, in deren Hause ich jene erste verhängnisvolle Nacht im September vorigen Jahres zubrachte, pflegte uns. Es mag zehn Uhr gewesen sein, als plötzlich während der stillen, dunklen Nacht das Fenster erdröhnte von schweren, wuchtigen Schlägen. Rauhe Männerstimmen befahlen zu öffnen. Wie eine Taube im Sturm, so flüchtete die arme Pflegerin zu mir, die nur zu gut wußte, welcher Art sie waren. Aber ich konnte mir selbst nicht helfen. Die Stimmen draußen wurden immer lauter; sie drohten, die Tür zu sprengen oder das Haus anzuzünden. Es war ein herzzerreißender Anblick für mich, als die arme Tina sich mit Bangen und Zagen entschloß, den Räubern die Tür zu öffnen. Gleich einem Orkan stürmten sie brüllend in das dunkle Haus. Sie forderten Licht und zündeten selbst die armselige Ölfunzel an, die aufgespart wurde für die allernotwendigsten Fälle im Krankenzimmer. Zuerst setzten sie sich um den Tisch herum und ließen sich vortragen, was im Hause vorhanden war. Sie aßen das letzte Brot auf und tranken die letzte Milch aus. Dann stürzten sie sich gierig auf Schränke und Kommoden. Die Schubladen wurden mit Krachen mitten ins Zimmer geschleudert. Sie gebärdeten sich so wild, als ob sie uns gleich alle erstechen würden. Irgendeine Rücksicht auf die Kranken nahmen sie nicht. Sie trieben den Hausherrn vom Lager und nahmen ihm den Pelz weg, auf dem er lag. Sie verhöhnten den armen Kranken, als er sie fragte, worauf er denn liegen sollte.

    Ich lag im Nebenzimmer und hörte den Vorgang mit steigender Fieberhitze. Jeden Augenblick mußten sie zu mir hereinkommen. Fräulein Tina schob schnell meine Kleider unter meine Kissen und stand neben meinem Bett ebenfalls in spannender Erwartung. Wie wollte ich das Mädchen retten? Wohin sollte sie gehen? Waren doch sicher in allen Häusern solche Gesellen! Wir hörten das Fahren der Fuhrwerke draußen.

    Da fiel mir ein, daß der Nachbar, ein Zahnarzt, die Krankheit bereits überstanden hatte. Dort war es sicherer für Tina. Sie verließ auf meinen Rat das Haus und blieb verschont.

Endlich näherten sich schwere Tritte. Die Tür flog auf, und drei wüste Gesellen umstanden mein Lager. Sie fragten nach Stand und Nationalität.

    Lehrer? wiederholten sie und sahen sich im Zimmer um. Es stand nur ein Tisch darin, und sie entfernten sich so geräuschvoll, wie sie gekommen waren. Der Durchzug währte drei Tage und drei Nächte. Nun ging es wieder zu wie acht Tage vorher. Wenn eine Gruppe das Haus verließ, kam eine andere herein. Draußen war es grimmig kalt, und das Brennmaterial ging zur Neige. Tina und ihre Schwestern kamen wieder und sorgten für uns, so gut sie konnten. Ich höre noch die armen Kühe im kalten Stalle brüllen. Das Futter hatten die Anarchien bis auf den letzten Halm ihren Pferden verfüttert. Milch gab es nicht mehr. Die Kranken begehrten allerdings nicht viel zu essen; aber wer das Bett verließ, hatte einen um so größeren Hunger. Der entkräftete Leib verlangte zum Neuaufbau kräftige Nahrung, wie Fleisch und Milch.

    Eines Tages trugen mich die Anarchien samt dem Bett in das Zimmer zu den anderen Kranken und nun lagen wir eng aneinandergepfercht und litten gemeinsam. Sie richteten sich ein in den übrigen Zimmern.

   Erst nach Neujahr gab es eine Wendung zum Besseren.

 

 

Am 6. Februar.

    Statt der ukrainischen Anarchisten haben wir jetzt die großrussischen Bolschewiki im Haus, die jenen auf den Fersen sind und hier in unserem Ort Station machen. Die meisten Kolonisten fürchteten die Bolschewiki gleich den Anarchisten. Wir sehen aber, daß es regelrechte Truppen sind. Oft zeigen sie ein menschliches Rühren bei unserem Elend, das ihre Gegner verursacht haben. Es sind mobilisierte Soldaten aus allen Schichten der Gesellschaft und durchaus nicht alle Bolschewiki. Diese Menschen können uns ja auch nicht helfen, aber wir empfinden es schon wohltuend, nicht ausgeflucht und ausgeraubt zu werden. Allerdings ist zum Rauben nichts mehr geblieben.

   Die Bolschewiki haben ihr Heerwesen reorganisiert, und nun ist Disziplin bei ihnen, so daß eigentlich nur noch in der Weise gestohlen wird, wie von jeher in Rußland gestohlen wurde. Roheit herrscht überall nach diesem fluchwürdigen Kriege. Wie kann es anders sein, als daß junge Menschen, die vielleicht vier Jahre vor Ausbruch des Krieges Soldat wurden und die bis heute das rohe Handwerk übten, in moralische Verwirrung geraten!

 

 

Am 11. Februar.

    Ich ging heute trotz des Schneetreibens hinaus. Es hielt mich nicht mehr im Zimmer. Mein erster Gang galt jenem Häuschen oben, wo ich in meinen gesunden Tagen wohnte. Da saß nun in traurig leerem Hause die alte Großmutter bei den beiden verwaisten Kindern. Sie schmiegten sich an mich, als haftete an mir ein Stück ihrer Eltern, die meine nahen Freunde waren. Ich vermied, von ihren Eltern zu sprechen; ich vermochte es nicht; die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Unvergeßlich bleibt mir der Blick des kleinen 8jährigen Mädchens; ein Blick, der abgrundtiefes Leid verriet. Für sie hatten Vater und Mutter die ganze Menschheit bedeutet. Aus allen Häusern starrt jetzt das nackte Elend und niemand ist, der diesen armen Waisen helfen kann. Der Hunger quält sie, an Schuhen und Kleidern fehlt es. Jemand kommt täglich und heizt ihnen den Ofen. Blutleer sehen sie aus und haben doch kräftige Nahrung nötig. Jedes Mittel wäre mir recht, wenn ich hier helfen könnte.

    Auf dem Heimwege wurde ich so schwach, daß ich fürchtete, in der Schneedüne liegen zu bleiben. Deshalb trat ich in ein Haus, um auszuruhen. Der Vater sei gestorben, sagte die erwachsene Tochter auf meine Frage, und die Mutter könnte nicht mehr gehen seit der Krankheit. Eine Schwulst ganz böser Art hindere sie daran. Der ältere Bruder sei gestorben und der jüngere habe das Gehör verloren. Schwerhörig sind wir Genesenden alle, aber manche trifft es besonders hart. Frau Gretes Nichte ist sozusagen erblindet. Ihre Pupillen haben sich so sehr geweitet, daß das Sehvermögen fast verschwunden ist.

    Ein junger, sehr religiöser Mann zeigt seit seiner Krankheit ein wunderliches Benehmen. Vor einiger Zeit ist er auf die Straßen gegangen und hat zu sich ins Haus eingeladen, wen er fand. Er hat sie zur Mahlzeit eingeladen, ohne daß seine Frau darum wußte. Dann hat er mit irrem Verstand wunderliche und unverständliche Reden geführt.

    Arm und hilflos sind wir dem Schicksal preisgegeben!

 

 

Am 15. Februar.

   Ich mußte nach dem ersten, bei so ungünstigem Wetter gewagten Ausflug abermals ein paar Tage das Bett hüten. Die Temperatur stieg und es waren alle Anzeichen einer Lungenentzündung vorhanden, besonders heftige Stiche, die mir den Atem benahmen.

    Heute fühle ich mich besser. Ich habe das Bett verlassen. Es ist mir verleidet, um so mehr, als es zu kurz ist und ich mich während 40 Tage nicht ausstrecken durfte, was mir oft Tantalusqualen verursachte; aber es war kein anderes Bett vorhanden.

    Ich sitze am Ofen, habe den geretteten Mantel über die Schultern gelegt, und doch friert mich. Ich faßte heute ein Stück vom zerbrochenen Wandspiegel und erschrak bei meinem Anblick. Wir sind zum Spott der Menschen geworden. Die Augen liegen tief im Kopf; die geschorenen Haare gehen stellenweise aus, der Bart wächst ungepflegt unregelmäßig weiter. . .  So sehen alle aus. Die Frauen sind ihres Haarschmuckes beraubt, weil während der Krankheit die Haare lästig sind und sie später unrettbar aussehen.

   Am Nachmittag. Ein schwaches winterliches Sonnenlächeln erfüllt das dumpfe Zimmer. Ich greife zum Notierstift. Nur wenige Blatt Papier sind mir geblieben. So muß ich mit spitzem Stift ganz sparsam beschreiben, denn es gibt kein Papier mehr in Rußland, und wäre noch etwas bei Spekulanten, so fände ich doch nicht so viel Geld, um es zu bezahlen.

   In der NikolaipolerWollost (Landbezirk) wütet der Flecktyphus ebenso heftig wie bei uns. Die Witwen aus Eichenfeld, jenem Ort, wo in einer Nacht alle Männer ermordet wurden, sind mit wenigen Ausnahmen an Typhus gestorben. Wen wundert’s? Sie hatten nach jener Schreckensnacht und den darauffolgenden Sorgetagen keine Widerstandskraft mehr, die sie der Krankheit hätten entgegensetzen können. Sie sind tot, wie ihre Männer. Um sie sorgen wir uns nicht mehr. Aber die Kinder blieben zurück. Aus dem einen Hofdorf allein sind 200 deutsche Waisenkinder zurückgeblieben. Die Wohnungen ihrer Eltern sind vernichtet worden. Entweder sind die Häuser abgebrochen, des Nutzholzes wegen, das zur Zeit in der Ukraina von unschätzbarem Wert ist, oder sie sind eingeäschert worden. Sie müssen in unseren 16 Hofdörfern untergebracht werden. Doch, was läge ich da unser Bezirk hat keine 16 Hofdörfer mehr. Aus 4 Dörfern sind die Deutschen Kolonisten vertrieben worden. Die ehemaligen schönen Höfe sind nunmehr traurige Ruinen. Auch diese Menschen müssen, so viele ihrer noch am Leben sind, bei uns untergebracht werden. Wie kann man ihnen helfen? Wir müssen mit ihnen kommunistisch leben. Ach, wir sind ja so gefügig geworden. Wir hätten wohl früher von unserem Ueberfluß kaum so bereitwillig mitgeteilt, wie wir es jetzt in unserer Armut tun. So sind wir Menschen! Ich bin überzeugt, wenn man in Welteuropa wüßte, wie elend wir dran sind, so würden sie wohl dort für ein Viertelstündchen Mitgefühl mit uns zeigen, vielleicht sogar ein Almosen für uns übrig haben; aber helfen würden sie uns nicht, denn sie können das Entsetzliche unserer hilflosen Lage nicht ermessen: ich kenne Welteuropa.

    Wie stark sind wir nach dem Friedhof ausgewandert. 40% unserer Bevölkerung sind dort angesiedelt worden. In Chortitza gab es außer den Industriellen und Handwerkern 38 Hofbesitzer. Nur noch 7 sind am Leben. Einige Familien sind ganz ausgestorben. Man ist in Häuser gekommen, wo die letzten Einsamen bereits 8 Tage tot in ihren Betten lagen. Ein Mann wurde in der Ecke hockend aufgefunden. Vermutlich ist er vor Ermattung zusammengesunken und dann verhungert. Man fand keinen Bissen irgendwelcher Nahrung in diesem Hause. In der Regel sind auch hier bei uns die Eltern von der Krankheit weggerafft worden, während die Kinder zurückgeblieben sind.  Ohne fremde Hilfe sind sie verloren. Unpolitische Köpfe hoffen, daß Deutsche, Engländer, Franzosen oder Amerikaner zu Hilfe kommen würden, wenn sie auch etwas holen könnten.

 

 

Am 16. Februar.

    Es geht nur langsam voran mit dem Gesundwerden. Verwunderlich ist das freilich nicht. Der genesende Leib verlangt nach der langen Fastenzeit doppelte und dreifache Zuteilung. Daraus erklärt sich, daß die Genesenden bei jedem Zusammentreffen über ihren Hunger klagen und die gute, alte Zeit preisen, als man übergenug Brot, Fleisch, Eier und Milch hatte. Nach und nach verbohrt man sich in die Frage nach unserer Zukunft. Wir sehen ausnahmslos ins Schwarze oder sehen ein Fragezeichen. Was soll werden?

    Gestern brachte man meinen armen Wirtsleuten noch zwei Waisenkinder ins Haus. Es sind Kinder ihrer Verwandten. Ihre Eltern hatten einen großen schönen Hof. Sie sind tot. Das Vieh ist gestohlen. Die Häuser — verbrannt. Zerlumpt und zerrissen sind schon die letzten Kleider dieser beiden Jungen; der eine ist sieben, der andere neun Jahre alt.

    Sie waren kaum einige Stunden im Hause, da kam der Jüngste ängstlich schreiend zur neuen Pflegemutter gelaufen und rief immerfort: „Sie kommen, sie sind da!" — Er hatte auf der Straße bewaffnete Reiter gesehen. Das Kind trug in seiner Seele die Gefühlserinnerungen an jenen verhängnisvollen Besuch, als sein Vater und sein 17 jähriger Bruder vor seinen Augen ermordet wurden. Wir trösteten ihn, denn es waren Bolschewiki, die im Vergleich zu den Anarchisten Engel sind.

    Ja, die Kinder! Um sie und ihre Zukunft ist uns bange. Und es sind ihrer so viele. Die Deutschen Kolonisten legten sich keinerlei Beschränkung auf in bezug der Zahl der Kinder. In jeder Familie sind 7 bis 12 Kinder. Jetzt ist das Problem der Ernährung und Bekleidung zu einem riesigen Problem geworden. Lebten wenigstens die Väter und Mütter; aber gerade sie griff die heimtückische Krankheit so heftig an, daß sie widerstandslos dem Tode zum letzten Tanze folgten.

  

 

Am 17. Februar.

    Die Sonne wird mit jedem Tage freundlicher. Wir gehen doch dem Frühling entgegen. Aber bis Ende April müssen die Krankenzimmer geheizt werden. Wir sind so empfindlich gegen Kälte. Die Bäume sind bald alle gefällt. Wälder gibt es nicht in unserer Steppe. Das Holz Nord-Rußlands liegt für uns ebenso fern, wie der Wald in Zentral-Afrika. Die wenigen Lokomotiven, die es noch gibt, fördern Züge mit Menschen aus dem Norden herbei, um den Krieg gegen den General Wrangel zu führen, der aus der Krim nach Norden vordringt.

    Die Getreidemühlen stellen nach und nach den Betrieb ein, denn es gibt keine Kohlen, kein Holz, keine Oele, keine Treibriemen mehr. Die Mehlpreise steigen phantastisch an und wir verkaufen an Spekulanten die unentbehrlichen Möbel und selbst Häuser zum Abbrechen, um Zahlungsmittel in die Hand zu bekommen.

 

 

Am 18. Februar.

    Zu Tausenden ziehen bolschewistische Truppen durch unseren Ort und machen hier Station. Sie haben keine Einsicht, wenn wir ihnen sagen, daß wir kein Brot entbehren können. Hungrige Soldaten aber verhandeln nicht lange. Sie müssen eilen, und wenn es unser letztes Brot ist.

    Ueber 90% der Bevölkerung hat die Krankheit durchgemacht. Das große Sterben hat nachgelassen. Wir Ueberlebenden müssen uns wieder mit dem Leben befreunden, wiewohl es uns sehr unfreundlich entgegenkommt.

    In der Umgebung greift die Krankheit immer weiter um sich. Die Ansteckung ist bei den äußerst schlechten hygienischen Verhältnissen groß. Es fehlt ihnen nicht nur an Medizin und Vorbeugungsmitteln, es mangelt vor allem an Bett- und Leibwäsche.

    Europa, Völker der Welt, wir rufen um Hilfe! Aber unser Ruf verhallt ungehört. Wie wir keine Nachricht, keine Zeitung aus einem Bereiche, der über unseren Gesichtskreis hinausgeht, erhalten, genau so wenig erfährt man dort von uns. Man weiß nichts von unserem Elend, von unserer Not!

  

 

Am 19. Februar.

  Eine Freudennachricht! Uns wird Hilfe gebracht! Die Deutschen aus dem Nachbargouvernement senden Hilfe. Die Nachricht habe ich mir glaubhaft bestätigen lassen. Hilfe kommt!

 

 

Am 21. Februar.

    Die deutschen Gemeinden aus Taurien haben einen Transport Mehl und Schmalz gesandt.

   Allerdings ist nur die Hälfte von allem hier angekommen. Die Wagen sind unterwegs angehalten und „beschlagnahmt“ worden. Immerhin ist einiges angekommen. Und die Spender lassen sich wohl durch ein Mißgeschick nicht abhalten, ihr Werk fortzusetzen; denn was bisher geschehen ist, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

    Es ist erfreulich, daß jene Kolonisten dieses Mal nicht so sehr gelitten haben, wie wir und daß sie nun in der Lage sind, uns etwas abzugeben. Dort sind Lebensmittel vorhanden, wenn man sie nur herüberschaffen kann!

    Jene Kolonisten schicken ganze Lazarettausrüstungen. Es sind Krankenpfleger von dort angekommen, die in unserer verseuchten Gegend Krankenhäuser errichten wollen, um der Ausbreitung der Krankheit entgegenzutreten. Man will die Erkrankten aus den Häusern herausnehmen und sie einer geeigneten Pflege zuführen.

    Ja, noch mehr! Sie wollen von ihrem spärlichen Vorrat an Leib- und Bettwäsche uns zuteilen.

    Die Not weckt die Bruderliebe gleicher Stammesgenossen. Auch jene haben eine Leidensgeschichte hinter sich, die der unserigen nahekommt. Der aufrichtige Wunsch, Opfer zu bringen, lindert unsere moralische Not; er hilft unserem Hoffen auf. Ohne vorangegangene große Leiden wären diese eigennützig veranlagten Kolonisten zu so großen Opfern nicht willig geworden. Das ist die gute Seite unserer Schreckenszeit.

 

  

Am 28. Februar.

    Wäsche aus Taurien! Kindlich freuen sich große Menschen, die sonst Wäscheschränke voll Wäsche hatten, über ein Hemd, auch wenn es gebraucht und geflickt ist.

    Wenn man in Westeuropa wüßte, wie wir hier ein altes, verwaschenes aber reines Hemd schätzen, wie wir dankbar wären, wenn ein jeder von uns so viel an Wäsche besäße, daß er die Unterkleidung wechseln könnte! Das können immer noch nicht alle tun. Viele haben zu dem keine Oberkleider mehr, weil die Anarchisten viele Kranken auch der letzten Kleider beraubten, ich weiß einen Mann, der im Bett liegen muß, weil er keine Kleider hat.

     Wenn man dort ermessen könnte, wie hoch wir ein Paar Stiefel einschätzen! Wir gehen auf Holzsohlen, daran überkreuz Seiden oder Tuchbänder genagelt sind, sodaß wir darauf wie auf Sandalen gehen. Aber die Füße sind nicht bedeckt; man hat keine Wolle, geschweige denn Strümpfe.

  

 

Am 1. März.

    Es ist vorbei! Die Hoffnung verblaßt. Zwischen jenen Deutschen in Taurien und uns ist die Front der beiden Heere Wrangels und der Bolschewiki entstanden. Wir sind von den helfenden Brüdern abgeschnitten. Wir leben in vollkommener Abgeschlossenheit. Die Bahnen gehen nicht, die Post arbeitet nicht, der Telegraph erst recht nicht, denn während der Willkürzeit, die immer noch andauert in der anarchisch verseuchten Ukraina haben die Telegraphenstangen und -Drähte andere Verwendung gefunden. Am ehesten denkbar wäre jetzt der Verkehr zu Pferde. Allein wir haben keine Tiere behalten. Wenn es noch elende Klepper gibt, so gebraucht man sie, um das eine oder andere Feld notdürftig zu bestellen. Im Herbst konnten die Felder der Anarchien wegen nicht bestellt werden, und jetzt bleiben sie liegen, weil es keine Arbeitskräfte gibt.

    Das Reisen ist gefährlicher geworden als im Innern Afrikas. Vorgestern wagten drei Deutsche es, sich auf einen längeren Weg zu begeben. Gestern um Mittagszeit fand man den Fuhrmann und das junge Brautpaar tot am Wege. Sie waren nur 15 Werst fortgekommen. Des Wagens und der elenden Pferde wegen wurden sie ermordet.

 

 

Am 2. März.

    Wir sind Fremdlinge in diesem Land. Wer es vor dem Kriege nicht empfand, der hat es während und nach dem Kriege tausendfach erfahren mühen. Wir sind in den Augen unserer russischen Nachbarn die verfluchten Njemze, die in ihrem Lande wirtschaftlich hochgekommen sind. Daß unsere Vorfahren vor 120 Jahren als Siedler ins Land gerufen wurden, um Teile der Steppe urbar zu machen, daß sie durch Fleiß und Ausdauer, sowie durch eigene kluge wirtschaftliche Organisation in gänzlich unpolitischer Weise, als Gesamtheit zu einer besseren wirtschaftlichen Stellung gekommen sind als die russischen Bauern, das ignorieren sie. Die Kolonisten, die niemals eine politische Rolle gespielt haben, sind wahrhaftig nicht Schuld daran, daß der russische Bauer bis 1861 noch als Leibeigener gehalten wurde, und daß er nach seiner Befreiung in schmaler Furche neben den riesengroßen Gütern der Großen des Landes sein kümmerliches Brot suchen mußte.

   Die meisten Kolonisten fangen an, ernstlich darüber nachzudenken, ob eine andere Heimat gefunden werden kann. Wahrlich, es ist genug an dem, was wir ertragen mußten. Während des Krieges waren wir die Stiefkinder, die ärger als Feinde behandelt wurden, weil kein Staat sich ihrer annahm. Seit 100 Jahren waren sie die loyalsten Bürger, ohne sich je um Politik zu kümmern, weder um die innere, noch viel weniger um die äußere. Die Zarenregierung begann sie zu enteignen und bedrohte sie mit der Verbannung in die Tundren Sibiriens. Panslawistische Hetzer versuchten jedes Mittel, um den Wehrlosen Tritte zu verletzen.

    1917 kam die Revolution und rettete sie von der Vertreibung nach Sibirien. Aber dann folgte die bolschewistische Oktoberrevolution und mit ihr der Bürgerkrieg und die Anarchie. Ein Wehe nach dem anderen kam über uns.

    Wir haben hier keine Heimat. Wir wollen fort! Die Losung „Auswandern“ geht wie ein Lauffeuer von Ort zu Ort. Wo zwei oder drei Kolonisten zusammentreten, da sprechen sie vom Auswandern. Nur das hält uns noch aufrecht, nur dieser Gedanke gibt uns Hoffnung.

    Aber wie? Wohin? Mit welchen Mitteln? Werden unsere Hoffnungen auf unüberwindliche Hindernisse stoßen? Das sind bange Fragen, die gefühlsmäßig mit Hoffen und Zagen verknüpft sind.

  

 

Am 5. März.

    Nun ist Gewißheit da! Seit längerer Zeit schon ging das Gerücht von einem Blutbad in der deutschen Kolonie Sagradowka, 200 Werst westwärts vom Dnjepr.

    Heute hielt ich die Liste der Ermordeten in der Hand! Was ich sah, ich fasse es nicht! Ich durchflog die langen Reihen der Namen — es verschwamm mir vor den Augen. 214 Menschen — ich kenne sie alle.

    Mein Vater! Ihr Brüder! Gemordet! Ich möchte schreien, daß der Erdball zittert! Mein Bruder, wäre ich für ihn gestorben! Du hattest eine Frau und 7 kleine Kinder! Du rastloser Kämpfer für Wahrheit und Ideal! — So kennt der Frevel keine Grenzen?!

Ende

     

Nestor Machno

      Während der Revolution von 1905 wurde Nestor Machno schon in jungen Jahren als Anarchist vom zaristischen Regime zu Tode verurteilt. Aufgrund seiner Minderjährigkeit wurde er zu lebenslanger Haft begnadigt und gewann in der Revolution von 1917 seine Freiheit zurück. Nachdem er als politischer Gefangener entlassen wurde, kehrte er in die Ukraine zurück und ergriff gleich nach der Oktoberrevolution die Initiative, um die große Masse der Bauern für eine Protest-Bewegung zur Abschaffung der Staatsmacht zu gewinnen. Das Zentrum der rebellischen Region war der Oblast Saporischschja, im Südosten der Ukraine, angrenzend an das Asowsche Meer. Unabhängig von den Kämpfen, die er gegen die sowjetische Regierung führte, schürte er einen auffallenden Hass auf die deutschen, besonders auf die mennonitischen Kolonien, welche Machno „Ausbeuter“ nannte.

     Nach der Besetzung der Ukraine durch die österreichisch-deutsche Armee wurde Machno gezwungen, sich zurückzuziehen und organisierte mit seiner Partisanengruppe eine Untergrundbewegung in den Dörfern der Südukraine.  Im Juni 1918 traf er in Moskau die führenden Köpfen der Bolschewiki, wie Jakow Swerdlow und Wladimir I. Lenin, die versuchten, ihn und seine Bewegung für die bolschewistische Oppositionsregierung in Charkiv zu gewinnen. Nach seiner Rückkehr nach Guljaj-Pole leitete er die Revolution ein, die von den Bauern ausgeführt werden sollte. Er übernahm die Führung der Aufstandsbewegung und organisierte die ersten militärischen Aktionen gegen die österreichischen und deutschen Besatzungstruppen. Trotz seiner zahlenmäßig weit unterlegenen Streitkräfte gelang es ihm, gegen die deutschen und österreichischen Truppen militärische Erfolge zu erzielen.

    Die kurzfristigen Erfolge ermöglichten Nestor im November Waffen und Reserven zu organisieren. Mit dem Rückzug der deutschen und österreichischen Armee befanden sich die Mennoniten ohne ihre bisherige Unterstützung, um sich gegen die sogenannte Machnowschtschina, die Machno-Bewegung, zu verteidigen. Schon im Jahre 1918, unmittelbar nach der Ankunft des deutschen Militärs, richteten die Mennoniten eine Art militärische Organisation ein, die sich Selbstschutz nannte. Diese Einführung stellt in der Geschichte der Mennoniten erstmalig einen Bruch gegen ihre Prinzipien dar, da sie freiwillig zur Waffe griffen und das Prinzip der Wehrlosigkeit missachteten.

     Ob der Selbstschutz mit der Weißen Armee in Verbindung trat, um gegen die Rote Armee zu kämpfen oder um sich zu verteidigen, ist widersprüchlich. Nach David Penner verbündeten sich die Führer des Selbstschutzes mit der Weißen Armee und boten sich zum Kampf gegen Machno und der auf seiner Seite stehenden Roten Armee an. Nach Gerhard Hildebrandt diente jedoch der Selbstschutz in den Jahren von 1917 bis 1921 lediglich der bewaffneten Verteidigung.

    Obwohl die Begründer des Selbstschutzes immer behaupteten, dass es sich um keine politische Organisation handelte, favorisierten und unterstützten sie die Weiße Armee.

    Die Machnowschtschina kämpften mit vereinten Kräften, gewannen die ukrainischen Bauern für sich und übertrafen die Zahl der Selbstschützler bei weitem. Da die Führung des Selbstschutzes in den Händen der mennonitischen Siedler lag und diese nicht mit den Bauern der ukrainischen Dörfer kooperierten, war die Beendigung des Aufstands und der Plünderungen noch weit entfernt.

     Die Chortitza-Siedlung wurde 1919 gänzlich von der Roten Armee eingenommen, 245 Einwohner, darunter ihre Anführer, wurden exekutiert. Im Frühjahr 1919 gab es wenig Ernte und die Beherbergung und Verköstigung der Besatzungsarmee wurde zu einer großen Belastung für die Bevölkerung. Anfang des Sommers hatte die Rote Armee die Befehlsgewalt an ihrer Südfront verloren und die Weiße Armee konnte unter Denikin weiter vorstoßen.

    Nach dem Einmarsch der Weißen Armee in die Chortitza Kolonie, wurde eine Einheit von ungefähr einhundert Mann, bekannt unter Chortitza Otrad, gebildet, um die Kolonien und die Dnjepr-Nikopol Eisenbahn abzusichern. Auch die Molotschna Kolonie geriet im Juli 1919 unter deren Besetzung. Im Herbst desselben Jahres kam es jedoch zu einem unerwarteten Angriff der Machno-Bewegung. Sechstausend Machno-Anhänger durchdrangen die Barriere der Weißen Armee in Cherson und erreichten im Oktober die Molotschna Kolonie. Ihre Eroberung brachte eine Periode des Terrors und Schreckens für die Mennoniten. Ihre Siedlungen wurden geplündert, Frauen vergewaltigt, Männer ermordet und große Teile der Siedlung in Brand gesteckt.

   Mit der einbrechenden Kälte quartierten sich die Truppen der Roten Armee bei den Mennoniten ein und verbreiteten infolge der schlechten Hygiene und der dürftigen medizinischen Pflege Epidemien und Krankheiten, wie Typhus.

    Die Chortitza-Kolonie war ebenfalls durch den Einmarsch der Machnowschtschina schwer betroffen. Tausende Kranke und Verwundete quartierten sich bei Familien ein und verbreiteten Epidemien, so dass ein Drittel der Bevölkerung von Chortitza starb.

    Nach dem Versagen der Weißen Armee vor Moskau im Oktober 1919 war die vollständige Niederlage der antibolschewistischen Kräfte bereits unvermeidbar. Eine Gegenoffensive durch die Roten zwang sie jedoch zu einem raschen Rückzug und bereits im Dezember wurde die Ukraine wieder eingenommen und Sowjetrussland eingegliedert. Denikins Armee floh auf die Krimhalbinsel, die letzte Basis der weißen Bewegung und nach Bessarabien. Eine weitere Offensive erwies sich als undurchführbar.

    Die Kriegsereignisse und die anarchistische Bewegung des Nestor Machno, die die mennonitischen Gemeinden verwüsteten und ausplünderten, waren mitunter ein Anlass zum Entschluss zur Auswanderung.

             Quelle: „Die Emigration der Mennoniten aus der Sowjetunion“, Charlotte Thausing

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